Full text: Geschichte des deutschen Volkes.

Derfall der karollugischen Relche. 95 91—92. 67 
seinen Söhnen vornahm, ward das kaum Errungene wieder in Frage gestellt. 
Der Fluch des Verwandtenzwistes zerrüttete hier, wie jenseits des Rheins und 
der Alpen, das Haus Karls des Großen. Da die beiden älteren Brüder, 
Karlmann und Ludwig (der 880 auch die westliche Hälfte Lothringens 
für das Ostfrankenreich gewonnen hatte), jung und schnell hintereinan- 
der ohne berechtigte Erben starben, so vereinigte 882 der jüngste, Karl, 
der Dicke genannt, das ganze Ostfrankenreich. Um dieselbe Zeit ent- 
behrte auch das Westfrankenreich eines Herrschers. Hier hatte der schwache 
und doch tyrannische Karl der Kahle durch Nachgiebigkeit gegen den immer 
mächtiger werdenden großen Adel, der seine Lehen längst als Erbgüter 
ansah, seine königliche Macht beständig gemindert. Er hinterließ, als er 
877 starb, ein zerrüttetes Reich, das sein Sohn, Ludwig II. der Stamm- 
ler, nur zwei Jahre regierte und das dann an dessen Söhne, Ludwig III. 
und Karlmann, überging, die gleich den deutschen Vettern rasch hinter- 
einander starben. Der jüngste Sohn, Karl, der Einfältige zubenannt, 
war noch ein Kind, und so wählten die französischen Großen den letzten 
mündigen Karolinger, den Herrscher des gesamten Ostfrankenreiches, jenen 
arl gen Dicken, Ludwigs des Deutschen Sohn, gleichfalls zu ihrem 
nige. 
* 92. Karl der Dicke, der bereits auch die römische Kaiserwürde und 
die Herrschaft über Italien zu gewinnen gewußt hatte, vereinigte also noch 
einmal das ganze Karolingerreich. Es hatte fast noch die Grenzen, die Karl 
der Große ihm gegeben, aber wie anders stand es jetzt mit seiner Macht! 
Uber Stalien verflaten bereits die Päpste, die in den Wirren und Zwistig- 
keiten des Karolingerreiches zu immer höherem Ansehen emporgestiegen 
waren und die neben der höchsten geistlichen Gewalt (§ 81) auch schon eine 
Art weltlicher Oberherrlichkeit, besonders die Verleihung der Kaiserkrone, in 
Anspruch nahmen. Sie stützten jetzt die übertriebensten Ansprüche auf die 
um 850 auftauchenden falschen (Pseudo-) Isidorischen Dekretalien, 
angeblich Beschlüsse alter Kirchenversammlungen, die dem römischen Bischof, 
d. i. dem Papste, ein unbeschränktes Ansehen über alle anderen Bischöfe der 
Christenheit verliehen und die geistliche Gewalt von der weltlichen als ganz 
unabhängig darstellten. Papst Nikolaus I., kühn und klug zugleich, schlug 
jeden Widerspruch, der sich gegen diese Schriftstücke erhob, mit wuchtiger 
Hand nieder, und bis gegen das Ende des Mittelalters hat die Urkunde * 
echt gegolten. In den Zerrüttungen, die über Italien kamen, bedeutete hier 
die Königsmacht bald gar nichts mehr. Die Bischöfe in ihren Gebieten 
waren die angesehensten Herren des Landes. — Unter Begünstigung des 
Papstes Tohanne VIII. hatte sich ferner ein besonderes Königreich an der 
Rhone gebildet, das sich Burgund oder Arelat nannte (879). Ein frän- 
kischer Großer, Boso von Vienne, der eine Enkelin Kaiser Lothars ge- 
heiratet hatte, war der Gründer dieser neuen Macht. — Außerdem aber 
ward das Reich von allen Seiten angefochten. Im Osten gewann eine sla- 
vische chaft, welche die Herzöge Rastislaw und namentlich Swatopluk 
in Mähren errichtet hatten, eine rasche Ausdehnung und bedrohte die öst- 
lichen Marken des Frankenreiches. Im Süden kamen über das Meer von 
Nordafrika die Sarazenen und bemächtigten sich Siciliens und Unteritaliens, 
wetteifernd mit den Oströmern oder Griechen, die ihren Anspruch an Italien 
noch immer nicht aufgaben und damals gerade Apulien an sich rissen. Die 
sämtlichen Nordküsten des Frankenreiches von der Elbe an, ja auch die West- 
küsten bis zur Garonne hin, wurden von den furchtbaren Seeräubern Däne- 
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