Die Regierung und die Parteien. 195
tag im Daseinskampf des deutschen Volkes gespielt hat, daß dem Abgeord-
neten Erzberger ein führender Einfluß zufallen konnte. Unser Parteileben
schon vor dem Kriege hatte Parteiführer, aber keinen Staatsmann hervor-
gebracht. Die Zusammensetzung des vom Frieden übernommenen Reichs-
tags entsprach auch nicht mehr der Gesinnung des deutschen Volkes. Der
Einfluß, der seinen Parteien eingeräumt wurde, entsprach ihrer Bedeutung
nicht. Der Abgeordnete Erzberger war in den Reihen des Reichstags
außerhalb der Sozialdemokratie der einzige Mann, den zäher Wille zur
Macht beseelte. Dieser sicherte ihm die Gefolgschaft des Zentrums. Schon
im Frieden war er als bester Kenner des Etats geschätzt und von der Re-
gierung gefürchtet. Auch im Kriege war er bisher als Abgeordneter in-
folge der Eigenart seiner politischen Kampfweise mehr gefürchtet als ge-
achtet gewesen. Beweise der Befähigung zu positiver sachlicher Arbeit
oder nationaler Führerschaft hatte er bisher nicht erbracht. Seine Kennt-
nisse von politischen Vorgängen und sein unverantwortlicher Einfluß waren
wesentlich durch die Aufgaben erweitert worden, die das Auswärtige Amt
ihm im Kriege übertragen hatte. Er ist keine Persönlichkeit, die einen
Einfluß, der ihr eingeräumt wird, nicht auch ausnutzt. Dabei verkörpert
er auch jetzt noch nicht erkennbare, jedenfalls nicht nationale Endziele.
Den entscheidenden Schritt vom hinter den Kulissen wirkenden Mitarbeiter
zum politischen Machthaber tat er durch die Friedensresolution, in Ver-
bindung mit der er den Kanzler, der ihn zur Macht gebracht hatte, be-
seitigte und seine Macht durch die Reichstagsmehrheit, die er hinter sich
brachte, sicherte.
Die Kanzlerschaft Michaelis war für die weitere Entwicklung nur
eine Episode. Der Reichskanzler Graf Hertling wehrte sich wohl gegen
die Persönlichkeit des Abgeordneten Erzberger. Sachlich blieb auch er von
ihm abhängig. Die Kanzlerschaft des Prinzen Max brachte dem Abgeord-
neten Erzberger die ersehnte amtliche Stellung. Die Revolution warf ihn
schließlich ganz an die Spitze. In dieser Laufbahn ist die ganze Entwicklung
eingeschlossen, die die Dinge seit der Friedensresolution nahmen. Diese
bedeutete schon den Verlust des Krieges und den Beginn der Revolution.
In dieser übernahmen nur diejenigen Kräfte auch äußerlich die Führung,
die sie seitdem schon tatsächlich hatten. Hätte die O. H. L. damals den
Kampf aufgegeben und zur Vermeidung weiterer vergeblicher Opfer so-
fortigen Waffenstillstand und die Einleitung von Friedensverhandlungen
verlangt, so hätte sie vielleicht richtig gehandelt. Wir hätten keine anderen
Friedensbedingungen zu hören bekommen als im Herbst 1918, hätten aber
vielleicht noch die moralische Kraft besessen, uns von den Schlacken des
Parteikampfes zu befreien und den Entscheidungskampf mit derjenigen
Entschlossenheit und Einigkeit durchzuführen, die uns allein vor dem Ver-
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