2 Erstes Buch. Allgemeine Lehren. s1.
ungen über Wesen und Aufgabe des Staates konnte der Gedanke friedlicher
Gemeinschaft mit anderen Staaten als des Mittels notwendiger Ergänzung
der eigenen Persönlichkeit im Bereich des individuellen wie des sozialen
Daseins nicht zur Geltung kommen. Dieser Zustand der Selbstgenügsamkeit
und Isolierung konnte nur so lange andauern, als das nationale Leben auf
allen Gebieten des materiellen und geistigen Daseins die Bedingungen der Be-
friedigung betreffender Interessen zu bieten vermochte. Jener Selbstgenügsam-
keit war aber bei allen einer höheren Entwicklung entgegenstrebenden Völkern
in dem engherzigen nationalen Prinzip ihres politischen Daseins eine natürliche
Grenze gezogen, die sich auf den höheren Stufen der Entwicklung des nationalen
Lebens sofort von selbst geltend machen mußte. In dem Maße, als die Lebensver-
hältnisse der einzelnen Nationen eine absolute nationale bez. territoriale Ab-
schließung nicht mehr vertragen, wird allmählich der Gedanke in das nationale
Bewußtsein aufgenommen, daß die Koexistenz der Staaten und Völker nicht
nur Konflikte aufweist, sondern auch friedliche Beziehungen mit sich bringt,
deren Pflege anfänglich aus dem Gesichtspunkt des Nutzens stattfinden mag,
aber allmählich zu der Überzeuguug führt, daß die konstante Erhaltung
solcher nützlicher Beziehungen auf eine dauernde Grundlage hinweist,
auf welcher jene Pflege ihre sicherste Förderung finden kann. Die Bildung
dieser Überzeugung ist von der Erkenntnis begleitet, daß ein solcher Zustand
wesentlich an die Voraussetzung der gegenseitigen Anerkennung der gleichen
Rechtssubjektivität und sohin des gleichen Rechts der im Verkehr stehenden
Völker geknüpft ist. Mögen daher immerhin in älterer Zeit (selbst bei feind-
licher Berührung der Völker) unter dem Einfluß religiöser Anschauungen !)
und dem Zwange der Notwendigkeit gewisse Anforderungen humaner Sitte
sich Geltung verschafft haben, mögen auch mancherlei Verhältnisse durch
Verträge?) ihre Regelung gefunden haben, so felılte es doch an jener not-
wendigen Voraussetzung dauernden friedlichen und rechtlich gefestigten Ver-
kehrs, nämlich der Anerkennung der rechtlichen Gleichbeit der Völker, die
selbst wieder in letzter Reihe bestimmt ist durch die unbedingte (von der
Angehörigkeit an ein bestimmtes Staatswesen, eine bestimmte Nation und
1) Vgl. Laurent, Histoire du droit des gens I p. 37, 53, 104, 183, 302, 411, 435.
2) So hatten die Römer mit unabhängigen Staaten mancherlei Verträge Friedens-,
Freundschafts-, Allianz-, Hospitalitätsverträge — focdera acqua und non acqua — geschlossen.
Vgl. Marquardt, Römische Staatsverwaltung I S. 24; Mommsen, Abriß des römischen
Staatsrechts S. 291 ff., der bezüglich der ewigen Bündnisverträge, von denen in dem nationalen
Städtebund Latiums die römische Entwicklung ausgeht, darauf aufmerksam macht, daß sie nur
nominell international sind, „da in der römischen Handhabung mit der Ewigkeit die Unab-
hängigkeit rechtlich verknüpft ist, der also mit Rom verbündete Staat damit dem freien
Vertragsrecht entsagt und in Wehrrecht beschränkt wird .... Ein Internationalrecht in dem
heutigen Sinne, dauernde Festsetzungen nicht kriegsrechtlicher Art zwischen zwei Staaten
formell gleicher Souveränität hat die römische Staatsordnung nicht entwickelt“ — Vgl. auch
Barbeyrac, Histoire des anciens trait@s depuis les temps les plus reeulcs jusqu’A P’Em-
pereur Charlemagne (p. 1—474), der die verschiedenen Gegenstände der Völkerverträge in
Altertum auf Grund eines reichen geschichtlichen Materials nachweist.e — Dieses Material
fand in ncuerer Zeit namentlich durch die Erforschung der Inskriptionen eine wesentliche
Vermehrung.