8 2. Begriff des Völkerrechts. 9
Gemeinschaft auferlegt. Diese über den Kreis der souveränen Einzelexistenz
hinausgreifenden Funktionen entsprechen den aus der internationalen
Gemeinschaft der Staaten entspringenden Forderungen an die
Einzelsouveränität; sie bilden aber zugleich eine harmonische, weil in
der Natur der Dinge liegende Ergänzung der Funktionen des Staats auf dem
Gebiete der nationalen Staatsaufgabe, die der Einzelstaat eben nur in engstem
Anschluß an die internationale Gemeinschaft zu lösen vermag !).
Die praktische Betätigung der Souveränetät des Einzelstaats in seinen
konstanten und vorübergehenden Beziehungen zu anderen Staaten ist heute
durchaus von der Idee und der Anerkennung der Notwendigkeit der
internationalen Gemeinschaft und der Solidarität der Inter-
essen ihrer Mitglieder beherrscht. Vor dem Hervortreten der Idee der
internationalen Gemeinschaft verweisen Beziehungen von Staaten unterein-
ander nur auf deren souveränen Willen. Liegt es nun einerseits nahe, den
Zweck des Völkerrechts in der Definition zum Ausdruck bringen zu wollen,
so dürfte doch anderseits nicht übersehen werden, daß der Zweck des Völker-
rechts in letzter Reihe mit dem des Rechts überhaupt übereinstimmen muß.
Für die begriffliche Abgrenzung des Völkerrechts von anderen Gebieten des
Rechts genügt es daher, das differenzierende Moment in die Begriffsbestimmung
aufzunehmen. Wie innerhalb der nationalen Rechtsordnung, so handelt es
sich auch im Völkerrecht nur um die Förderung menschlicher Lebenszwecke,
hier jedoch insofern, als dieser allgemeine Rechtszweck mit Beziehungen der
Staaten untereinander verknüpft ist. Von den Staaten für deren wechısel-
seitige Beziehungen anerkannte rechtliche Regeln haben daher notwendig
immer eine (nähere oder entferntere) Beziehung zu dem allgemeinen Rechts-
zweck?2). Die völkerrechtlichen Normen charakterisieren sich dadurch, daß
sie jene Verhältnisse regeln, die durch den Verkehr selbständiger, an der
internationalen Gemeinschaft beteiligter Staaten (Völker) gegeben sind. Das
Völkerrecht ist daher der Inbegriff rechtlicher Normen, welche
die mit der Gemeinschaft der Staaten und Völker verknüpften
Lebensverhältnisse regeln?).
ı) Vgl. v. Kaltenborn, 8. 250ff., der zuerst die einseitige Betonung der Souveränetät
als Prinzip des Völkerrechts wirksam bekämpfte. In gleichem Sinne v. Mohl, Staatsrecht,
Völkerrecht u. s. w. I S. 5S1ff.; Bulmerincq, Völkerr. 178; v. MartensIS. 1ff., 199ff.;
Rivier S. 3ff.; neuestens Nippolda.a.O. 52ff. 59: Die Gemeinsamkeit, die Solidarität „ist
in Wirklichkeit das alleinige Prinzip des Völkerrechts“. „Die Souveränctät ist kein besonderes
völkerrechtliches Prinzip.“
2) Wenn v. MartensI S. 18 das Völkerrecht als die Gesamtheit der Rechtsnormen
definiert, welche den Völkern für die Sphäre ihrer gegenseitigen Beziehungen die äußeren
Bedingungen zur Erreichung ihrer Lebenszwecke setzen, ao ist doch zu beachten, daß das-
jenige, was hier als charakteristisch für die Völkerrechtsnormen bezeichnet wird, vom Rechte
überhaupt gilt.
3) Von anderen Definitionen des Völkerrechts mögen folgende hier angeführt werden:
Grotius, De juro belli ac pacis Lib. I Cap I$ XIV: „... estjus gentium ... . quod gen-
tium omnium aut multarum voluntate vim obligandi accepit.“ Vattel, Le droit des gens etc.
8 6: „. . . le droit des gens n'est originairement autre chose que le droit de la nature appli-
que aux nations.* Wheaton, Elements of international law (cd. 1866) Ip. 23: „International