20 Erstes Buch. Allgemeine Lehren. 84.
Handlungen ihrer unmittelbaren Subjekte — der souveränen Staaten — ihr
Recht.1) Sohin ist das Völkerrecht als autonomisches Recht auf die seinem
Charakter entsprechenden Formen der Äußerung der Willensübereinstimmung
der Staaten und der darauf beruhenden Normen gegenseitigen Verhaltens:
auf Gewohnheiten und Verträge?) angewiesen.) Als autonomisches Recht
geht das Völkerrecht von keiner höheren Autorität aus als von der Autorität
derer, die es als Norm ihres gegenseitigen Verhaltens anerkennen und an-
wenden.*) Übrigens ist noch zu bemerken, daß das Nichtvorhandensein einer
über den Staaten stehenden gesetzgebenden Gewalt überhaupt nicht als ein
Mangel des Völkerrechts bezeichnet werden kann, da die Existenz einer
solchen Gewalt das Gemeinschaftsverhältnis souveräner Staaten ausschließt.
Der Mangel einer solchen Gewalt entspricht vielmehr durchaus dem Wesen
der internationalen Gemeinschaft. — 2. Man leugnet die Positivität des Völker-
rechts, weil ständige und rechtlich organisierte Gerichte fehlen, durch deren
Entscheidungen internationale Rechtsstreitigkeiten auszutragen wären. In-
dessen, ein ausgebildetes Gerichtswesen und die Möglichkeit, bezüglich strei-
tiger Rechtsverhältnisse ein Urteil der Gerichte und die zwangsweise Reali-
sierung des Urteilsinhalts5) herbeizuführen, ist keineswegs Voraussetzung der
Positivität des Rechts;6) vielmehr hat das in Streit befangene subjektive Recht
die Existenz der Rechtsnorm zur Voraussetzung. Daß sich die Herrschaft
objektiven Rechts in betreffenden Fällen regelmäßig nur im Wege eines
geordneten Verfahrens vor verfassungsmäßig zur Ausübung des Richteramts
berufenen Organen der öffentlichen Gewalt bewähre, ist eine Forderung jeder
1) Richtig bemerkt Jellinok, Die rechtliche Natur der Staatsverträge S. 6, 7: mit
dem Nachweis, daß der Staat seinem eigenen Willen verpflichtende Vorschriften zu geben
imstande ist, ist die juristische Basis des Völkerrechts gefunden.
2) Wenn hie und da (vgl. z. B. v. Kaltenborn, Kritik S. 234; Heffter $ 3 „Natur
der Völkergesetze*) von Völkergesetzen gesprochen wird, so geschieht dies nur in uneigent-
lichem, nicht juristischem Sinne. Vgl. auch Bergbohm a.a. 0. 8. 18, der richtig hervorhebt,
daß die Verteidiger der Positivität des Völkerrechts die Existenz von „Völkerrechtsgesetzen*
gar nicht behaupten.
3) Vgl. Jellinek, Die rechtliche Natur der Staatsverträge S. 5, 6, 44, 45; siche auch
hier Dessen Gesetz und Verordnung S. 391ff.
4) Vgl. Jellinek, Die rechtliche Natur der Staatsverträge S. 1 ff. insbes. 7, 8 gegen
Fricker, Ztschr. f. d. ges. Staatsw. XXXII S. 36Sff. Siehe auch die Ausführungen bei Berg-
bohm.a.a.0. S. 20ff., wo die Frage, ob man den Mangel eines Gesetzgebers im Völkerrecht
so unbedingt zugestehen müsse, näher erörtet ist.
5) Thon in Grünhut’s Ztschr. VII S 254 macht übrigens darauf aufmerksam, daß die
Urteilsvollstreckung regelmäßig nicht mehr in der Hand des Richters liegt. Als „Aner-
kennung und Varwirklichung“ im Sinne des Ihering’schen Rechtshegriffs könne daher nur
die Subsumtion des einzelnen Falles unter die allgemeine Norm und die Verkündigung des
Ergebnisses als Urteil verstanden werden. Mit Recht fragt Thona.a.O.; „Wird nur das
Gesetz zum Rechte, für dessen Übertretung zugleich ein Richter eingesetzt ist, der die
Übertretung urteilsmäßig zu konstatieren hat?“ und meint, Ihering’s Ansicht lasse sich am
besten durch dessen überall hervortretenden Gedanken, daß das Recht doch bereits ohne den
Richter besteht, widerlegen. Vgl. a.a.0. S. 877, 383, 425.
6) Nach Ihering, Der Zweck im Recht I (1. Aufl.) 8.320 ist die Anerkennung
und Verwirklichung des Rechts durch den Richter (nicht überhaupt eine staatliche Be-
hörde) das wesentliche Kriterium des Rechts.