316 Fünftes Buch. Das Staatsgebiet. Das offene Meer. Die intern. Flüsse etc. Ss 9.
freiwilligen Gebietszessionen erfolgen übrigens auch in der Neuzeit
auf Grund von entgeltlichen oder unentgeltlichen Rechtsgeschäften. Das
Rechtsgeschäft selbst kann ein Kauf sein; so erfolgte gegen Zahlung einer
Geldsumme die Abtretung von Louisiana seitens Frankreichs an die Nord-
amerikanische Union (1800), der russischen Gebietsteile in Nordamerika an die
Union (1868), die Abtretung von Mentone und Roccabruna seitens des Fürsten von
Monaco an Frankreich (1861), der Insel St. Barthelemy seitens Schwedens an
Frankreich (1877), der Karolineninseln seitens Spaniens an Deutschland (1899).
Die Kaufsumme bedeutet in derlei Fällen nicht das Entgelt für die Zession der
Gebietshoheit, sondern für die mit der Gebietszession sich vollziehende Über-
lassung von Staatseigentum und anderen Vermögenswerten. Auch der Tausch
von Gebietsteilen kommt in neuerer Zeit vor, so insbesondere zum Zwecke
der Rektifikation der Staatsgrenzen, die Hingabe eines Kolonialgebiets, das
für den Berechtigten keinen Wert besitzt, gegen ein anderes seinen politischen
oder ökonomischen Interessen mehr entsprechendes Kolonial- oder sonstiges
Gebiet. Immer kommen aber bei derlei Tauschgeschäften nur kleinere Gebiets-
teile in Frage. Ferner können Gebietsabtretungen zum Zwecke der Verpfän-
dung vorkommen. Freiwillige Gebietszessionen können überhaupt aus
den verschiedenartigsten politischen Motiven stattfinden, so z. B.
um sich von den Lasten der Verwaltung eines Landes zu befreien. Solche
Fälle freiwilliger Gebietszessionen der Neuzeit sind jene bezüglich der Jonischen
Inseln seitens Englands an Griechenland im Jahre 1863, von Nizza und Savoyen
seitens Sardiniens an Frankreich im Jahre 1860, von Lauenburg seitens
Österreichs an Preußen im Jahre 1865, der holländischen Kolonien in Guinea
an England im Jahre 1872 usw. Gebietszessionen in Folge eines Krieges,
durch Friedensvertrag, sind zu allen Zeiten die für die Geschichte der Staaten,
ihre Schicksale und für die internationale Politik die wichtigsten gewesen.
Da in den Fällen der Gebietszession infolge eines Krieges wichtige Verände-
rungen in der realen Existenzgrundlage der Staaten und in dem gegenseitigen
Machtverhältnis der Verkehr pflegenden Staaten durch Gewalt herbeigeführt
werden, liegt es nahe, die in der Geschichte konstant wiederkehrende Er-
scheinung der Eroberung (der Annexionen) vom Standpunkte der materiellen
Gerechtigkeit zu prüfen. In tatsächlicher bezw. formeller Beziehung kann
die Legitimität des Gebietserwerbs durch Friedensvertrag nicht in Frage ge-
stellt werden. Recht und Gerechtigkeit treten aber mit der Macht der Tat-
sachen in Konflikt: einerseits wird die Annexion auf Grund von Friedens-
verträgen als legitimer Erwerb von Gebietshoheit anerkannt; andererseits
gilt die Verwerflichkeit der Eroberung als etwas Selbstverständliches. Ein
Recht der Eroberung behaupten zu wollen, wäre eine Absurdität. — Eine
neuere Ansicht sucht die Rechtmäßigkeit von Annexionen auf das sogenannte
Nationalitätenprinzip zurückzuführen. Allein auf dem Boden des europäischen
Völkerrechts, welches historische Rechtstitel der Besitzverhältnisse der
Staaten anerkennt, ist die Aufstellung des Nationalitätenprinzips ein Angriff
auf den Status quo, d. h. auf den bisher für rechtlich anerkannten Zustand
von Europa. Jenes Prinzip ist überhaupt nur denkbar unter der Voraus-