Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band III. Völkerrecht. (3)

$ 110. Erwerb der Staatsangchörigkeit. 353 
  
  
Dem entsprechend ist der bezüglich der Staatswahl in den Kulturstaaten heute 
geltende Grundsatz nicht im Sinne unbedingter Freiheit der Auswanderung 
anerkannt'!); die Auswanderung ist in der Regel nur gestattet, soweit nicht 
gesetzliche Hindernisse entgegenstehen und auch dann, wenn die Auswanderung 
als frei erklärt ist, kann der Staat die Art der Ausübung dieses Rechts 
gesetzlich regeln. Die Schranken der Auswanderungsfreiheit sind teils in den 
privatrechtlichen, teils in den öffentlichrechtlichen Normen enthalten. Uner- 
erlaubte Auswanderung zieht die landesrechtlich normierten Rechtsfolgen nach 
sich; die Staatsangehörigkeit selbst bleibt aber unberührt. Über- 
haupt ist festzuhalten, daß der Verkehrsakt des Individuums an sich bezüglich 
der Frage der Fortdauer der Staatsangehörigkeit keine Wirkung äußert. Dies 
gilt nicht bloß von dem vorübergehenden, kürzeren oder längeren Aufenthalt 
im Ausland, sondern auch von der sog. Auswanderung; diese ist nicht identisch 
mit der Ausbürgerung, so wenig die Einwanderung identisch ist mit der 
Einbürgerung oder Naturalisationd. Dagegen kann allerdings das 
positive Recht des Heimatsstaats mit dem dauernden Aufenthalt im Auslande 
den Verlust der Staatsangehörigkeit verbinden; so z. B. verlieren Deutsche, 
welche das Bundesgebiet verlassen und sich zehn Jahre lang ununterbrochen 
im Auslande aufhalten?), hierdurch ihre Staatsangehörigkeit. 
Ausbürgerung oder Auswanderung begründet ein anomales Verhältnis, 
dem die Gesetzgebungen durch betreffende Vorschriften vorzubeugen suchen. 
So muß nach deutschem Recht binnen sechs Monaten vom Tage der Aus- 
händigung der Entlassungsurkunde die Auswanderung erfolgen, widrigenfalls 
die alte Staatsangehörigkeit wieder auflebt. Überhaupt liegt ein staats- 
rechtlich und völkerrechtlich normaler Vorgang in Fällen des Gebrauchs der 
Auswanderungsfreiheit nur dann vor, wenn der Ausbürgerung die Einbürgerung 
in einem anderen Staate folgt. Eine Anomalie tritt daher auch dann ein, wenn 
eine Einwanderung und Einbürgerung ohne Ausbürgerung stattgefunden hat. 
Während in dem Falle erfolgter Ausbürgerung und Auswanderung, aber 
mangelnder Einbürgerung, Heimatlosigkeit eintritt, hat der letztere Fall mehr- 
fache Staatsangehörigkeit zur Folge. Diesem letzteren Ergebnisse sucht die 
Mehrzahl der Staaten durch Statuierung des Grundsatzes vorzubeugen, daß 
durch die in einem anderen Staate erfolgte Einbürgerung (sei es durch 
Naturalisation oder kraft Gesetzes) die bisherige Staatsangehörigkeit ipso jure 
erlischt). Ein anderes Mittel der Verhütung mehrfacher Staatsangehörigkeit 
bietet der in einigen Staaten (Norwegen, Schweiz, Württemberg, Luxemburg, 
  
1) Der russische Tkas vom 6. März 1864 handelt nur von der Expatriation naturali- 
sierter Russen. In Amerika ist cs allein der Staat Venezuela, der die Auswanderungsfreiheit 
nicht anerkennt. Vgl. v. Bodmann a. a. O. 329, 330. 
2) Vgl. Stoerk, HH II 601; v. Martitz, Annalen 1875. 
3) Die Schutzgebiete gelten hier als Inland — Reichsgesetz vom 15. März 1688. 
4) Der Grundsatz wurde zuerst anerkannt in der französischen Verfassung vom 3. Sep- 
tember 1791 (Art. 6: J.a qualit@ de Francais se perd par la naturalisation en pays £Etranger). 
Eine Ausnahme ist durch das Gesetz vom Jahre 18%9 (Art. 17 Code civil) insofern statuiert, 
als die Naturalisation eines militärpflichtigen Franzosen nur dann gültig ist, wenn sie mit 
Zustimmung der französischen Regierung erfolgt ist. 
Ullmann, Völkerrecht. 93
	        
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