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aber, ob ein solcher Vorgang vor Erlaß des prisenrechtlichen Urteils ausnahmsweise er-
laubt ist. Die englische Praxis hält an der Regel fest, daß die neutrale Prise freizugeben ist;
der neutrale Eigentümer hat im Falle der Zerstörung Anspruch auf vollen Ersatz des Schadens,
selbst wenn Schiff und Ladung im Falle der Durchführbarkeit des Prisenprozesses verurteilt
worden wäre. Anders die Praxis Frankreichs (1870), Rußlands (Prisenregl. 1869, 1895 und
Instr. 1901), der Vereinigten Staaten (Naval War Code Art. 50) und Japans (1904, im Gegen-
satz zu dem Prisenreglement v. J. 1894), die in gewissen Fällen (Gefahr der Wiedernahme
der Prise, Notlage u. s. w.) die Zerstörung zulassen. In derlei Fällen sind aber jedenfalls
die Bemannung und wenn möglich die Ladung, sowie die Schiffspapiere in Sicherheit zu
bringen')., An die Wegnahme ist nach heutigem Recht eine definitive rechtliche Wirkung
bezüglich des Schiffes und der Ladung noch nicht geknüpft; diese Wirkung kann nur
durch prisengerichtliches Urteil herbeigeführt werden.
$ 196. Die Prisengerichtsbarkeit.2) I. Mißbräuche in der Zeit un-
beschränkter Verwendung von Kaperschiffen führten zur Schaffung einer Ein-
richtung, die im Gegensatz zum Landkriegsrecht einen Vorzug des Seekriegs-
rechts aufweist. Die Aneignung feindlichen Privateigentums und neutraler
Prisen (in Fällen des Bruchs der Blokade, der Zufuhr von Kontrebande, des
verbotenen Transports von Mannschaft usw.) vollzieht sich nicht unmittelbar
durch den Akt der Wegnahme, sondern auf Grund eines rechtlich geordneten
Verfahrens durch richterliches Urteil. So bedeutsam dieser Fortschritt ist, so
leidet doch diese Einrichtung bis in die neueste Zeit an dem Grundfehler, daß
diese Rechtsprechung ausschließlich nationalen Behörden des Nehme-
staats?) (nationalen Prisengerichten) anvertraut und deren Urteil in Wahr-
heit ein Urteil in caussa propria ist. Urteile dieser Gerichte gaben vielfach
Anlaß zu Beschwerden der passiv beteiligten Subjekte und führten zu diplo-
matischen Reklamationen der beteiligten neutralen Regierungen, die vielfach
selbst wieder einen Konflikt zwischen dem neutralen Staat und dem Nehme-
staat hervorriefen, dessen Ausgang nicht selten von der Machtstellung des
reklamierenden Staates abhing, wogegen kleinere Staaten sich bei Verletz-
ungen der Interessen ihrer Angehörigen lediglich passiv verhalten konnten.
Allein, die Natur der hier in Betracht kommenden Streitfälle und deren Be-
ziehung zu völkerrechtlichen Normen fordert grundsätzlich einerseits eine von
dem interessierten Kriegsteil unabhängige Justiz und anderseits Garantien un-
parteiischer Anwendung anerkannter Normen des Völkerrechts auf den Streitfall.
Erwägungen dieser Art führten schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in
der Doktrin zu Reformvorschlägen *); in neuerer Zeit hatte das Institut für
1) Gegen die Zulässigkeit der Zerstörung insbesondere Kleen, Lois et usages II, 531 sq.
dafür: Geffeken, HH IV, 777; F. v. Martens II, $ 126; Perels, Intern. Seerecht 298 ff.;
Dupuis, Le droit de la guerre mar. Nr. 261 sq.
2) Bluntschli $8$ Si1ff.; Heffter-Geffcken $$ 172ff.; Geffeken HH IV, 781 ff.;
F. v. Martens II, $8$ 123 ff.; Perels, Intern. Seerecht 297 ff.; Bonfils Nr. 1616ff.; Des-
pagnet, Cours \r. 664 sq.; Rivier, Principes II, 353 sq.; Kleen, Lois et usages 1I, $$ 219 sq.;
Dupuis, 1. c. Nr. 282 sp.; Boeck, 1. c. Nr. 740 sq.; v. Bulmerineg, R, X—XIH; Philli-
more III, 88 433sq.; Halleck II p. 393 sp.; Oppenheim II, 88 434 sq.
3) Diese ausschließliche Kompetenz der Prisengerichte wird als Konsequenz des Kriegs-
rechts anerkannt, daher die Judikatur nur den Kriegführenden, nicht den Neutralen zustehen
könne. Vgl. v. Martitz HRL, s. v. „Prisengerichte“.
4) Hübner, De la saisie des bätiments neutres (1759) II, 21; Tetens, Considerations
sur les droits reciproques de puissances bellig. et de p. neutres etc. (1505) 62.