Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band III. Völkerrecht. (3)

g 1. 1 
  
Erstes Buch. 
  
Allgemeine Lehren. 
$1. Einleitung. Der tiefliegende Unterschied der Völkergruppen schließt 
den Gedanken der Einheit des Menschengeschlechts!) nicht aus. Diese Er- 
kenntnis ist das Ergebnis der Gesamtentwicklung der Menschheit, soweit wir 
diese mit den uns heute zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Hilfs- 
mitteln zu überblicken vermögen. Für das Rechtsleben haben Rechtsgeschichte 
und vergleichende Rechtswissenschaft innerhalb der wichtigsten Gebiete des 
sozialen Lebens gleichartige Verhältnisse und Normen und mit diesen eine ge- 
wisse Gleichartigkeit wirksamer Ursachen der Rechtsbildung nachgewiesen. 
Das Bewußtsein der Einheit des Menschengeschlechts ist allerdings erst das 
Ergebnis der höheren Stufe menschlicher Kulturentwicklung; die Entwicklung 
selbst vollzieht sich aber zunächst (namentlich in primitiven Verhältnissen) 
ausschließlich innerhalb der durch anthropologische, ethnische und ethische 
Eigenschaften charakterisierten Gruppenbildungen, und zwar in dem Maße, 
daß sich das gesamte Leben der Einzelnen wie auch das soziale Leben in dem 
nationalen Leben erschöpft. So ist alle Rechts- und Staatsbildung ursprüng- 
lich ausschließlich, auf den höheren Stufen der Entwicklung vorwiegend das 
Werk der sozialethischen Betätigung des nationalen Geistes: alle 
staatliche Organisation erschöpft sich in der Ordnung der Gemeininteressen 
der Angehörigen einer bestimmten Nation — ein Kriterium, das noch für das 
staatliche Leben der Hauptvölker des klassischen Altertums maßgebend war. 
Der ausschließlich nationalen Rechts- und Staatsbildung entsprach eine gegen- 
seitige Isolierung der Nationen — ein Zustand der Selbstgenügsamkeit. 
Diese Selbstgenügsanıkeit — Autarkie — bildet im klassischen Altertum für 
die Betrachtung des Staats und dessen wissenschaftliche Erkenntnis geradezu 
das wesentliche Merkmal, wodurch sich der Staat von anderen Formen sozialen 
Lebens unterscheidet. Dieser Anschauung entsprach die Überzeugung, dab 
der Staat die vollkommenste Form menschlichen Gemeinlebens bildet und dem 
Einzelnen wie der Nation im Ganzen die Befriedigung der materiellen und 
geistigen Bedürfnisse zu gewährleisten vermag. Innerhalb dieser Anschau- 
  
i) Laurent, Histoire du droit des gens I p. VIII: L’histoire du droit des gens nous 
montre le genre humain s’avangant vers un avenir de paix et d’unite. 
Ullmann, Völkerrecht. 1
	        
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