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Erstes Buch.
Allgemeine Lehren.
$1. Einleitung. Der tiefliegende Unterschied der Völkergruppen schließt
den Gedanken der Einheit des Menschengeschlechts!) nicht aus. Diese Er-
kenntnis ist das Ergebnis der Gesamtentwicklung der Menschheit, soweit wir
diese mit den uns heute zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Hilfs-
mitteln zu überblicken vermögen. Für das Rechtsleben haben Rechtsgeschichte
und vergleichende Rechtswissenschaft innerhalb der wichtigsten Gebiete des
sozialen Lebens gleichartige Verhältnisse und Normen und mit diesen eine ge-
wisse Gleichartigkeit wirksamer Ursachen der Rechtsbildung nachgewiesen.
Das Bewußtsein der Einheit des Menschengeschlechts ist allerdings erst das
Ergebnis der höheren Stufe menschlicher Kulturentwicklung; die Entwicklung
selbst vollzieht sich aber zunächst (namentlich in primitiven Verhältnissen)
ausschließlich innerhalb der durch anthropologische, ethnische und ethische
Eigenschaften charakterisierten Gruppenbildungen, und zwar in dem Maße,
daß sich das gesamte Leben der Einzelnen wie auch das soziale Leben in dem
nationalen Leben erschöpft. So ist alle Rechts- und Staatsbildung ursprüng-
lich ausschließlich, auf den höheren Stufen der Entwicklung vorwiegend das
Werk der sozialethischen Betätigung des nationalen Geistes: alle
staatliche Organisation erschöpft sich in der Ordnung der Gemeininteressen
der Angehörigen einer bestimmten Nation — ein Kriterium, das noch für das
staatliche Leben der Hauptvölker des klassischen Altertums maßgebend war.
Der ausschließlich nationalen Rechts- und Staatsbildung entsprach eine gegen-
seitige Isolierung der Nationen — ein Zustand der Selbstgenügsamkeit.
Diese Selbstgenügsanıkeit — Autarkie — bildet im klassischen Altertum für
die Betrachtung des Staats und dessen wissenschaftliche Erkenntnis geradezu
das wesentliche Merkmal, wodurch sich der Staat von anderen Formen sozialen
Lebens unterscheidet. Dieser Anschauung entsprach die Überzeugung, dab
der Staat die vollkommenste Form menschlichen Gemeinlebens bildet und dem
Einzelnen wie der Nation im Ganzen die Befriedigung der materiellen und
geistigen Bedürfnisse zu gewährleisten vermag. Innerhalb dieser Anschau-
i) Laurent, Histoire du droit des gens I p. VIII: L’histoire du droit des gens nous
montre le genre humain s’avangant vers un avenir de paix et d’unite.
Ullmann, Völkerrecht. 1