Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

Einleitung. 33I 
derselben von größeren Staatsgebilden aufgesaugt worden und dadurch eine 
Konsolidierung der Territorien eingetreten, welche politisch und staatsrechtlich 
unendlich wichtiger war als der Untergang des ohnehin morschen und in Ver- 
wesung begriffenen Reiches. Die Entstehung dieser Staaten von mittlerer Größe 
und politischer Lebensfähigkeit war aber zugleich eine wesentliche geschicht- 
liche Voraussetzung für ihre spätere Zusammenfassung zu einem Bundesstaate, 
der ohne eine Mehrheit solcher Staaten nicht denkbar ist. Die Gründung des 
Deutschen Bundes auf dem Wiener Kongreß von 1815, seine Verfassung und 
seine Untauglichkeit, den politischen Bedürfnissen der deutschen Nation zu 
genügen, die Geschichte der Einheitsbestrebungen, die Ereignisse, die zur Auf- 
lösung des Deutschen Bundes, zur Errichtung des Norddeutschen Bundes und 
zur Erweiterung desselben zum Deutschen Reich führten, dürfen als bekannt 
vorausgesetzt werden und müssen hier mit Rücksicht auf den zur Verfügung 
stehenden Raum übergangen werden. 
Auch die historischen Wurzeln des Landesstaatsrechts reichen in entfernte 
Zeiten zurück. Aber es bedarf keines Eingehens auf die Entstehung und den 
allmählichen Untergang des feudalen Staates und auf die Verfassung des abso- 
luten Fürstenstaates, der durch sein eigenes Werkzeug, die Bureaukratie, über- 
wunden wurde; denn wenngleich in einigen Grundprinzipien des heutigen öffent- 
lichen Rechtes ein Zusammenhang mit diesen historischen Grundlagen erkennbar 
ist, so trat doch seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts durch die Entwickelung 
des organischen Staates eine so tiefgreifende Veränderung des öffentlichen 
Rechtes in allen deutschen Staaten ein, daß mit diesem Zeitpunkt eine neue 
Periode des deutschen Verfassungsrechts beginnt. Die völlige Umgestaltung 
der Territorialverfassung, die Auflösung der feudalständischen Korporationen, 
die Beseitigung der Gutsuntertänigkeit und der grundherrlichen Beschränkungen 
des ländlichen Grundbesitzes, der Begriff des Staatsbürgertums, die veränderte 
Vorstellung vom Wesen und den Aufgaben des Staates und der Gemeinden, 
die Einwirkungen der französischen Revolution und der napoleonischen Staats- 
gründungen in Deutschland auf die politischen Anschauungen des Volkes und 
manche andere Gründe haben zu derselben Zeit, in der die reaktionäre Romantik 
der historischen Schule in der Theorie ihre höchsten Triumphe feierte und die 
Kontinuität der Rechtsentwicklung als ein unverletzbares Prinzip lehrte, die 
wirkliche Gestaltung des Rechtes in ganz neue Bahnen gelenkt und einen Bruch 
mit dem historisch Gewordenen herbeigeführt, wie er so jäh und so vollkommen 
sonst niemals in der Geschichte des deutschen Rechtes sich ereignet hat. Diese 
neuen Rechtssätze sind in den deutschen Staaten weder gleichzeitig noch gleich- 
mäßig zur Geltung gelangt; jeder Staat hat seine besondere Verfassung und sein 
besonderes Verwaltungsrecht; es gibt daher so viele Landesstaatsrechte als 
Staaten. Da aber in allen deutschen Staaten dieselben politischen Anschauungen, 
dieselben sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse, dieselben Tendenzen wirk- 
sam waren, so vollzog sich die Neuordnung des Verfassungsrechts überall in der 
gleichen Richtung, so daß trotz zahlreicher Abweichungen in den Einzelheiten 
eine große Übereinstimmung in den Grundprinzipien und Einrichtungen besteht.
	        
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