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wie gegen seine Nachbarn, alles von seinem persönlichen Stand-
punkt, niemals aber etwas vom Standpunkt der Masse aus
betrachtend. Das Gefühl des Individualismus und das Be-
dürfnis des Widerspruches sind bei dem Deutschen in einem
unbegreiflichen Grade entwickelt. Man zeige ihm eine offene
Tür; ehe er hindurchgeht wird er sich darauf steifen, sich
nebenan in der Mauer ein Loch bohren zu wollen. So wird
auch keine Regierung, was sie auch tun möge, in Preußen
jemals populär sein. Die große Mehrheit wird stets ent-
gegengesetzter Meinung sein. Dadurch allein, daß sie die
Regierung ist, und sich dem Individuum gegenüber als Au-
torität hinstellt, ist sie dazu verurteilt, von den Gemäßigten
beständig Widerspruch, von den Exaltierten Verunglimpfung
und Insulten zu erfahren. Das ist das gemeinsame Schicksal
aller Regierungen gewesen, die seit Beginn der Dynastie auf-
einander gefolgt sind. Die liberalen Minister haben ebenso-
wenig wie die reaktionären vor unseren Politikern Gnade
finden können ..
Und indem er die verschiedenen Regierungen und Re-
gierungsformen seit Anbeginn der Monarchie durchmusterte,
ließ Bismarck es sich angelegen sein, zu beweisen, daß die
Auerswald und die Manteuffel dasselbe Schicksal gehabt
hätten, und daß Friedrich Wilhelm III., den man den
Gerechten nannte, bei dem Streben, die Preußen zu-
frieden zu stellen, sein Latein ausgegangen sei, ebenso wie
Friedrich Wilhelm IV. „Den Siegen Friedrichs des Großen
jauchzten sie freudig zu; doch bei seinem Tode rieben sie sich
die Hände vor Freude, von diesem Tyrannen befreit zu sein.
Neben diesem Antagonismus jedoch eristiert eine tiefe An-
hänglichkeit an die Dynastie. Es gab noch keinen Souverän,
keinen Minister, keine Regierung, die sich die Gunst des
preußischen Individualismus hätten erobern können; alle
aber rufen aus Herzensgrund: Es lebe der König! Und wenn
der König befiehlt, so gehorchen sie. Die Rebellion fürchtet
die Regierung nicht. Unsere Revolutionäre sind nicht so schrecklich.
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