Full text: Rechtslexikon. 1. Band: A-K (1)

Auslegung. 
geringste eigenmächtige Abweichung, 
bei Vermeidung Unserer höchsten Un- 
gnade und schwerer Ahndung, sich zu 
erlauben .. .“ Wenn auch anerkannt 
werden muß, daß gerade in neuerer Zeit 
die Gesetze klarer und technisch vollen- 
deter werden, so darf darum die A nicht 
ausgeschaltet werden. Sie bleibt vielmehr 
der Vermittler zwischen Recht und Volk. 
Die A stellt den Sinn, Umfang und In- 
halt einer Rechtsnorm fest. Sie hat in 
geistig freier Weise alle wissenschaft- 
lichen Mittel zu verwenden, um den 
Rechtssatz mit dem ihm angemessenen In- 
halt zu erfüllen. Die A der Gesetze darf 
sich nicht so weit von dem Boden des 
Gesetzes entfernen, daß vom Gesetze 
selbst nichts mehr übrig bleibt. Grund- 
regel ist: das Gesetz will nicht etwas 
Unvernünftiges, Inhaltloses, Widersin- 
niges enthalten. Als Staatsbürger, auch 
als Jurist ist man dem Gesetze diesen Re- 
spekt schuldig, und es erscheint wenig 
erfreulich, ein Gesetz so abkanzeln zu 
sehen wie einen Schulbuben, der sein 
Pensum nicht pünktlich aufgearbeitet hat. 
Der Grund für das Postulat einer 
a priori anzunehmenden Vernünftigkeit 
unserer Gesetze liegt in folgendem. Die 
sämtlichen Faktoren, welche im Staate an 
der Gesetzgebung mitwirken, wählen un- 
ter den bestehenden Möglichkeiten der 
gesetzlichen Normierung einer Materie 
diejenige aus, die ihnen zweckmäßig, 
durchführbar, angemessen erscheint. Auf 
diese Normierung einigen sie sich: das 
Ergebnis dieser Einigung ist der Ge- 
setzestext. An diesen Text sind alle Bür- 
ger, einschließlich der Juristen, gebunden. 
In Fällen, die dem Texte nach verschie- 
dene Deutungen zulassen, gibt die A die 
Möglichkeit, das Rechte zu finden. In 
solchen Fällen aber, in denen der Rechts- 
satz klar und deutlich nur einen Sinn er- 
gibt, darf man nicht, gleichviel unter wel- 
chem Vorwande, über das Gesetz hinweg- 
schreiten. Nicht, was dieser oder jener 
Gelehrte im Gesetze verwirklicht zu sehen 
wünscht, ist bei uns Rechtens ; sonst wäre 
im Grunde genommen der sehr umständ- 
liche Hergang des Gesetzgebungsaktes 
eine Überflüssigkeit. 
Es ist nicht leicht, dem Gesetze gerecht 
zu werden. Gern sieht man, was er- 
wünscht, erfüllt. Ein Forscher, der jahre- 
lang in dem Ideenkreise einer bestimmten 
Lehre das Recht dargestellt und behan- 
  
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delt hat, wird in einer dann erfolgenden 
gesetzlichen Regelung nur zu gern die 
Bestätigung gerade seiner Lehre finden. 
Das entschuldigt wohl, wirkt aber auf 
einen kultivierten Geschmack verstim- 
mend, hat es doch recht viel Ähnlichkeit 
mit gewerblichen Konkurrenzkämpfen. — 
Darum ist und bleibt oberster Satz: man 
gehe vom Gesetze aus und kehre zum 
Gesetze zurück. — Unter den möglichen 
Deutungen die angemessene zu finden, 
erfordert Takt und Erfahrung, Besonnen- 
heit des Urteils und Gefühl für das Rechte. 
Immer aber muß das positive Recht Grund- 
lage sein; nur so bleibt man vor Phan- 
tasterei über die lex ferenda, die manchem 
schon als lex lata erscheint, bewahrt. 
I. Entsteht eine Auslegungsregel durch 
eine Rechtsquelle, so ist sie bindend und 
hat rückwirkende Kraft; denn die authen- 
tische Interpretation erfüllt den bereits 
vordem vorhandenen Rechtssatz mit dem 
Inhalte, den er nach dem Willen der ge- 
setzgebenden Faktoren von Anfang an ha- 
ben sollte. Ob die so gegebene A dem 
entspricht, was man für richtig hält, ist 
gleichgültig: die authentische Interpreta- 
tion ist zwingend, ohne Rücksicht auf die 
sie veranlassenden Gründe. 
Die authentische Interpretation kann 
durch Gewohnheit, Staatsvertrag, Gesetz 
erfolgen. Hierbei ist hervorzuheben: 
1. Usualinterpretation ist die im Wege 
des Gewohnheitsrechtes erfolgende Aus- 
legung. Sie hat in der Regel den Wert 
authentischer Festlegung dessen, was be- 
reits bisher übliche Auslegung oder herr- 
schende Ansicht in einer Streitfrage war, 
vgl Paulus in D 1, 3, 37. — Ein Beispiel: 
Im Anschlusse an 2.Mos 22 16 hatte c. 
1 X de adulteriis 5, 16 bestimmt: si se- 
duxerit quis virginem nondum desponsa- 
tam dormieritque cum ea, dotabit eam et 
habebit uxorem. Das drückte man auch 
in dem Rechtssprichworte aus: duc et 
dota, d. h. der Verführer muß die Ver- 
führte heiraten und ihr überdies ein Hei- 
ratsgut, dos, zuwenden. — Die gemein- 
rechtliche Praxis interpretierte aber: duc 
aut dota, d. h. der Verführer habe die 
Verführte zu heiraten, oder er müsse, 
wenn er sie nicht heirate, ihr eine dos zu- 
wenden. Diese Auslegung ist gewohn- 
heitsrechtlich bestätigt worden; vgl RG 
49 207. 
2. Legalinterpretation ist authentische 
Erklärung einer bestehenden Rechtsnorm
	        
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