Full text: Rechtslexikon. 1. Band: A-K (1)

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portrait parl&, Gedächtnisbild. Dar Ber- 
tillonsche Verfahren soll ermöglichen, 
Personen, die einmal mit einer Behörde, 
insbesondere einer Sicherheits- oder Straf- 
vollstreckungsbehörde in Berührung ge- 
kommen sind, später unter allen Umstän- 
den zuverlässig zu rekognoszieren, selbst 
wenn Alter, Krankheit oder auch absicht- 
liche Veränderungen das Äußere der be- 
treffenden Person verändert haben; der- 
artige Rekognoszierungen sind für die 
Strafrechtspflege unzählige Male von 
größter Bedeutung. Eine Menge von Ver- 
brechern, welchen Rückfallstrafen drohen, 
läßt sich unter falschem Namen verurtei- 
len, um der Strafschärfung zu entgehen, 
wo möglich auf den Namen einer wirklich 
existierenden Persönlichkeit und unter 
geschickter Verwendung gestohlener Le- 
gitimationen; flüchtige Verbrecher ent- 
fernen sich mit Hilfe der modernen Ver- 
kehrsmittel schnell vom Tatorte und er- 
scheinen weit genug entfernt mit verän- 
dertem Äußeren, so daß sie selbst nichts 
zu fürchten brauchen, wenn sie mit einer 
Behörde in Berührung kommen, die ihren 
Steckbrief besitzt; gewerbsmäßige Ta- 
schendiebe, Kreditschwindler können sich 
mit Zufall, Unachtsamkeit, Leichtsinn 
oder Irrtum entschuldigen und minde- 
stens eine geringe Strafe erzielen, solange 
der Richter von ihrem Vorleben keine 
Kenntnis hat, und so gibt es noch un- 
zählige Fälle, in denen der Verbrecher 
das größte Interesse daran hat, daß seine 
Persönlichkeit nicht festgestellt wird. 
Und dies gelang dem Verbrecher früher 
sehr oft. Die bekannte dürftige Perso- 
nalbeschreibung, die noch heute in man- 
chen Steckbriefen zu lesen ist (z. B. Größe 
mittel, Augen blau, Haare dunkel, Nase 
und Mund gewöhnlich), war für Reko- 
gnoszierungen wertlos. Die Photographie 
(s. d.) verhalf zwar vielfach zu Erfolgen, 
mindestens ebenso oft aber kam es vor, 
daß der Abgebildete infolge von Verände- 
rungen, insbesondere in Bart- und Haar- 
tracht, nach der Photographie nicht wie- 
dererkannt wurde, oder auch, daß eine 
ganz andere Person infolge einer zufälli- 
gen Ähnlichkeit mit dem Bilde festge- 
nommen wurde. Überdies häuften sich 
bei größeren Polizeiverwaltungen die Bil- 
der bald zu Tausenden, und es stellte sich 
als unmöglich heraus, in jedem einzelnen 
Falle diese Tausende sämtlich durchzu- 
sehen. Wandel hierin hat erst das System 
  
Bertillonsches Identifizierungsverfahren. 
geschaffen, mit welchem der Beamte der 
Pariser Polizeipräfektur Alphonse Ber- 
tillon in den Jahren 1879 und 1880 an 
die Öffentlichkeit trat. Das Verfahren, das 
anfangs sehr skeptisch beurteilt wurde, 
erzielte bald ungeahnte Erfolge und ist 
heute über sämtliche Kulturstaaten ver- 
breitet. 
In den größeren preußischen Polizei- 
verwaltungen wurde es, nachdem schon 
vorher einzelne Versuche angestellt 
waren, im Jahre 1896 eingeführt, in den 
folgenden Jahren schlossen sich nach 
einem 1897 abgehaltenen Kongresse die 
übrigen deutschen Einzelstaaten an, Zen- 
trale für das gesamte Deutsche Reich 
wurde Berlin. 
Bei dem Bertillonschen Verfahren sind 
drei Methoden zu unterscheiden, welche 
regelmäßig sämtlich zur Verwendung ge- 
langen. Diese Methoden sind: a. die Kör- 
permessung, b. die Personalbeschreibung, 
c. die Aufnahme der besonderen Kenn- 
zeichen. Als vierte Methode könnte noch 
die von Bertillon angegebene Art der Ver- 
brecherphotographie genannt werden, auf 
die im folgenden noch hingewiesen wer- 
den wird. 
a. Die Körpermessung gründet sich auf 
die Beobachtung, daß das menschliche 
Knochengerüst vom 20. Lebensjahre ab 
: fast absolut unveränderlich ist, und daß 
es andererseits nicht zwei Menschen auf 
der ganzen Erde gibt, deren Knochen- 
gerüst vollständig gleich wäre. Messun- 
gen des Knochengerüstes lassen sich aber 
zum Teil auch am Körper des lebenden 
Menschen exakt ausführen, ohne daß die 
Gewebeschichten einen störenden Ein- 
fluß ausüben könnten. Bertillon hat nach 
langen Versuchen als besonders zweck- 
mäßig folgende 11 Maße ausgewählt: 
1. Körperlänge, 2. Armspannweite, 3. Sitz- 
höhe, 4. Kopflänge, 5. Kopfbreite, 6. Joch- 
beinbreite (dieses Maß ist erst später hin- 
zugekommen), 7. Länge des rechten 
Ohres, 8. Länge des linken Fußes, 
9. Länge des linken Mittelfingers, 
10. Länge des linken Kleinfingers, 
11. Länge des linken Unterarmes. Für die 
: Ausführung der Messungen hat Bertillon 
' besonders geeignete MeßBinstrumente und 
; Hilfsgeräte konstruiert, welche gestatten, 
die Messungen so genau und gleichmäßig 
wie nur möglich vorzunehmen. Da jede 
abweichende Konstruktion leicht andere 
Maße ergeben kann, ist in sämtlichen
	        
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