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der normalen Regentschaft des deutschen
Staatsrechtes und von dem Vorliegen
einer neugebildeten, völlig unbeschränk-
ten „Regentschaft für den, den es an-
geht‘, welchen sie in der Denkschrift vom
3. März 1902 des längeren zu begründen
suchte, hat das Regentschaftsgesetz zu
einer Quelle tiefgehenden Streites ge-
macht. Daß die Stellung der Regierung
rechtlich nicht haltbar war, ergibt sich
kurz aus folgendem: 1. Allgemeiner Cha-
rakter des Gesetzes (s. oben); 2. Unmög-
lichkeit einer verschiedenartigen Ausle-
gung und Anwendung des Gesetzes je
nach Lage des Falles, da sie allen sonsti-
gen Rechtsgrundsätzen zuwiderlaufen
würde; 3, historischer Grund: Es ist aus-
geschlossen, daß Herzog Wilhelm mit
dem Gesetz eine Suspension der verfas-
sungsmäßigen Thronfolge seiner Dynastie
beabsichtigt hat, die bei Verneinung der
Landesherrneigenschaft vorliegen würde;
4. Unverwertbarkeit des nur politische Be-
deutung in sich tragenden, aber nicht
Recht sprechenden oder schaffenden Bun-
desratsbeschlusses für die Verneinung der
Landesherrneigenschaf. Dem Reiche
fehlt zudem die Zuständigkeit zum Ein-
griff in die einzelstaatliche Thronfolge;
auch abgesehen hiervon zwingt der Wort-
laut des Beschlusses zu der Auslegung,
daß nur die „Ausübung der Regierung“ im
Gegensatz zur „Regierung als solcher‘ —
Thronfolge inhibiert werden sollte, womit
auch den preußischen Interessen, wenn
man sie als maßgeblich ansehen will, hin-
länglich Rechnung getragen wird; 5. es
ist unbestrittener staatsrechtlicher Grund- ;
. ministerium vom 15. Dez 1906 seinen und
satz, daß sich die Thronfolge von selbst
volizieht, daß also im Moment des Todes
des früheren Landesherrn der neue ohne
weiteres diese Eigenschaft erwirbt, so daß
demnach spätere gegen ihn gerichtete
Akte, aus denen — wie hier — die Aber-
kennung bzw Suspension der Sukzession
hergeleitet werden soll, einen unerlaubten
Eingriff in die Thronfolge darstellen wür-
den. — Im vorstehenden Sinne äußerte
sich vielfacher entschiedener Widerspruch
aus der juristischen Welt gegen den
Standpunkt der Regierung, so daß diese,
zumal sie selbst die Möglichkeit einer an-
deren Auslegung wie der ihrigen zugeben
mußte, es unternahm, für ihre Theorie
ausdrückliche gesetzliche Anerkennung
mittelst einer „authentischen Erklärung“
des Gesetzes von 1879 zu erstreben. Die-
Braunschweig.
ses ist geschehen durch das Gesetz, betr.
die authentische Erklärung des $ 6 des
Gesetzes vom 16. Febr 1879 Nr 3 wegen
provisorischer Ordnung der Regierungs-
verhältnisse bei einer Thronerledigung,
vom 4. Dez 1902 Nr 48. Es schreibt vor,
daß eine auf ‚Grund des Regentschafts-
gesetzes eingetretene Regentschaft bei
Wechseln in der Person des ‚erbbe-
rechtigten Thronfolgers‘ nicht endigt,
vielmehr so lange bestehen bleibt, bis
ein an der aktuellen Ausübung der
Regierung nicht behinderter erbberech-
tigter Thronfolger die Regierung antritt.
Daß hierdurch der Streit um die Landes-
herrneigenschaft des Herzogs Ernst
August in einem für die damalige Regie-
rung günstigen Sinne entschieden worden
sei, kann jedoch nicht anerkannt werden.
Gegen das Gesetz ist die Einwendung er-
hoben worden, daß dem Gesetzgeber die
Zuständigkeit gefehlt habe, da nach
staatsrechtlichen Grundsätzen der Regent
nicht über die Dauer seiner eigenen Re-
gentschaft Bestimmung treffen dürfe, na-
mentlich aber, daß das Gesetz einen Ein-
griff in das Recht der geltenden Thron-
folge darstelle, so daß dasselbe mangels
Zustimmung der berechtigten Agnaten
unwirksam sei.
Nach dem am 13, Sept 1906 erfolgten
Tode des Prinzen Albrecht von Preußen
ist das im Regentschaftsgesetz vorge-
schriebene Verfahren zum zweiten Male
in Anwendung gekommen. Abermals
konstituierte sich der Regentschaftsrat.
Nachdem alsdann der Herzog von Cum-
berland in seinem Erlaß an das Staats-
seines ältesten Sohnes, des Prinzen Georg
Wilhelm, Verzicht auf die Regierung des
Herzogtums zugunsten seines jüngsten
Sohnes, des Prinzen Ernst August, ange-
boten hatte, welcher letztere bereit sei,
erforderlichenfalls auf seine Rechtsan-
sprüche auf Hannover zu verzichten, hat
sich der Bundesrat abermals mit der
braunschweigischen Angelegenheit befaßt
und am 28. Febr 1907 den nachfolgenden
neuen Beschluß unter Stimmenthaltung
Braunschweigs abgegeben:
1. die Überzeugung der verbündeten Re-
gierungen dahin auszusprechen, daß, so-
lange Seine Königliche Hoheit der Herzog
von Cumberland oder ein Mitglied Seines
Hauses sich in einem dem reichsverfas-
sungsmäßig gewährleisteten Frieden un-