Full text: Rechtslexikon. 1. Band: A-K (1)

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serung um zwei Stimmen (von 4 auf 6). 
Gleichwohl mußten, ohne daß dies in 
dem Abschnitt III der R 6-10 (BR), wel- 
cher selbst denjenigen über das „Prä- 
sidium‘ vorangestellt ist, besonders zum 
Ausdruck kommt, wesentlich drei Um- 
stände modifizierend einwirken: 
1. die völlig veränderte Stellung der 
Präsidialgewalt als einer nun militärisch- 
diplomatischen Hegemohnie, 
2. das Hinzutreten eines zuvor nicht 
existenten parlamentarischen Faktors, des 
Reichstags, 
3. die Ausbildung der neuen Gemein- 
schaft zu einem selbständigen, mit reicher 
Kompetenz ausgestatteten Staatswesen an 
Stelle des alten Staatenbundes, der nur bei 
Einstimmigkeit der Glieder seine Verfas- 
sung ändern konnte. 
II. (Föderative Grundeigenschaft.) Die 
Zusammenpfropfung dieser neuen Rei- 
ser mit dem alten Stamm bewirkte, daß 
der politische und Rechtscharakter des BR 
an den üblichen Theorien und an fremd- 
ländischen Institutionen gemessen, ein 
widerspruchsvolles Gebilde, wie das Reich 
selbst, ist. Mancher Eigenschaft muß eine 
Beschränkung beigefügt werden und doch 
liegt gerade in der eklektischen Verbin- 
dung verschiedenartiger Elemente auch 
manche Stärke der Einrichtung. Am ent- 
schiedensten ausgeprägt als Grundeigen- 
schaft ist das föderative Prinzip. 
Das Bundeskollegium ist seiner Auf- 
gabe nach aus einer völkerrechtlichen Ver- 
sammlung zwar ein staatsrechtliches Or- 
gan geworden. Aber seinen persön- 
lichen Teilnehmern, den Bevollmächtig- 
ten, ist gleichwohl die völkerrechtliche 
Stellung bewahrt, R 10, und die staats- 
rechtliche Aufgabe besteht gleichzeitig in 
der Vornahme von Reichsgeschäften wie 
in Ausübung der einzelstaatlichen Rechte 
am Reichsorganismus selbst. 
Wohl ist ein Stoff- und Funktionsbe- 
reich ausgeschieden, in welchem die Prä- 
sidialmacht namens der Gesamtheit allein 
sich zu betätigen hat. Aber dieselbe hat 
andererseits im Bereich der bundesrät- 
lichen Aufgaben nur eine formelle Leitung 
und alle Befugnisse der Vormacht im BR 
können nur mittels der preußischen 
Stimmführung, also in der föderativen 
Stellung, ohne ein suzeränes oder obrig- 
keitliches Recht, ausgeübt werden. In 
den Stimmrechten sind alle Bundesglieder 
qualitativ, wenn auch nicht quantitativ, 
  
Bundesrat. 
gleich, soweit nicht steigernde Reservat- 
rechte eintreten. 
Da die Souveränität des Reichs der Ge- 
samtheit der Bundesglieder zusteht, ist 
der BR als die Versammlung ihrer Bevoll- 
mächtigten die Stelle, in welcher diese 
Souveränität und — nach Bismarcks Aus- 
spruch — zugleich die Souveränität der 
Einzelstaaten ihren fortdauernden Aus- 
druck findet. Er hat auch die Ausschüsse 
des BR gleichsam als die Fachministerien 
des Reichs hingestelit, und solange der 
Behördenapparat des Reichs ein höchst 
kleiner war, lag dem größere Realität zu- 
grunde. Auch bestehen vielfache Befug- 
nisse des Bundesrats für die Exekutive. 
Umgekehrt kommt demjenigen Staat, 
welcher als Reichsland nicht Mit- 
subjekt, sondern Objekt der Reichs- 
souveränität ist, keine Mitgliedschaft von 
mitbeschließender Kraft im BR zu: 
die Vertreter von Elsaß-Lothringen sind 
nicht Bevollmächtigte eines Bundesgenos- 
sen, sondern Kommissare der Landesver- 
waltung, haben nur beratende Stimme und 
können nicht als Mitglieder von Ausschüs- 
sen erwählt werden, ja ihre Tätigkeit ist 
nach $ 7 des Gesetzes vom 4. Juli 1879 
über Verfassung und Verwaltung dieses 
Landes beschränkt auf die „Vertretung 
der Vorlagen aus dem Bereich der Lan- 
desgesetzgebung, sowie der Interessen 
Elsaß-Lothringens bei Gegenständen der 
Reichsgesetzgebung‘‘ und damit auf die 
Teilnahme an den Bundesratsberatungen 
„über diese Angelegenheiten‘; als Ge- 
genstände der Reichsgesetzgebung sind 
jedoch nicht allein Gesetzesvorlagen, son- 
dern die Stoffgebiete der Reichskompe- 
tenz zu erachten, gleichviel ob sie im Ein- 
zelfall legislative oder administrative Fra- 
gen im BR auslösen. 
Die Auffassung des BR als die 
Stelle, in welcher jeder Staat sein eigenes 
Recht ausübt, wird in der Theorie bis zu 
der Folgerung betont, daß kein Staat ver- 
pflichtet sei, sein Stimmrecht in BR 
auszuüben (so z. BLaband, Meyer- 
Anschütz, v. Seydel gegen Zorn 
u. a), und findet scheinbar Anhalt 
in R 7 durch den Satz: „Nicht ver- 
tretene oder nicht instruierte Stim- 
men werden nicht gezählt.“ Aber 
die Ausdenkung zu einem Obstruk- 
tionsrecht der ganzen Einrichtung (jeder 
Staat könnte sich ja enthalten) wäre ebenso 
verwerflich wie die Verteidigung einer
	        
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