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Reichsges vom 1. Juni 1870 die Reichs-
angehörigkeit an die Staatsangehörigkeit
in einem Bundesstaate knüpft, so wird
auch im Sinne dieses Gesetzes EL als
Bundesstaat behandelt. Doch ist das ak-
tive und passive Wahlrecht für die lan-
desrechtlichen Vertretungskörper nicht
von dem Erwerb der els-lothr Staatsange-
hörigkeit abhängig, sondern steht jedem
Deutschen zu, in dessen Person gewisse
andere Voraussetzungen (Wohnsitz,
Steuerzahlen in EL) zutreffen (Ges vom
21. April 1873). Auch die Gesetzgebung
für EL ist ihrem Wesen nach Reichsge-
setzgebung; doch werden als Landesge-
setze die mit Zustimmung des Landesaus-
schusses zustande gekommenen be-
zeichnet; auf ihre Verletzung kann eine
Revision nicht gegründet werden. Eine
Aufhebung der im Wege der Reichsge-
setzgebung erlassenen Gesetze kann nur
durch Reichsgesetz erfolgen. Auf die Ver-
hältnisse der els-lothr Landesbeamten ist
durch Ges vom 23. Dez 1873 das Reichs-
beamtengesetz für anwendbar erklärt;
ihre Besoldung erfolgt aber aus der els-
lothr Landeskasse. Über die einzelnen
Verfassungsorgane ist noch folgendes zu
bemerken:
1. Der Kaiser übt die Staatsgewalt nicht
kraft eigenen Rechts, sondern auf Grund
Delegation im Namen des Reichs aus;
er ist deshalb nicht Landesherr (anderer
Meinung Leoni);daherS 96 ff nicht an-
wendbar. Die Ausübung kann ihm durch
Reichsgesetz entzogen werden. Seine An-
ordnungen bedürfen zu ihrer Gültigkeit
der Gegenzeichnung des Statthalters, so-
fern ein solcher ernannt ist; andernfalls
des Reichskanzlers.
2. Der Statthalter wird vom Kaiser be-
liebig ernannt und abberufen. Er übt die
einzelnen ihm vom Kaiser übertragenen
landesherrlichen Befugnisse aus; zurzeit
sind es die in der Kaiserl Verordnung vom
23. Nov 1907 aufgeführten. Seine An-
ordnungen bei Ausübung dieser Befug-
nisse bedürfen der Gegenzeichnung des
Staatssekretärs.
3. Der Landesausschuß besteht aus
58 Mitgliedern; hiervon werden 34 von
den Bezirkstagen, je eines von den Ge-
meinderäten der 4 größten Städte, sowie
von jedem der 20 Landkreise, und zwar
diese durch Delegierte der Gemeinde-
räte des Kreises, gewählt. Die Wahl er-
folgt auf 3 Jahre. Der Landesausschuß hat
Elsaß-Lothringen.
das Recht, Gesetze vorzuschlagen, Pe-
titionen entgegenzunehmen und der Re-
gierung zu überweisen; ein Recht zu
Adressen und Interpellationen ist ihm
nicht ausdrücklich verliehen. Die Rech-
nungen über den Landeshaushalt sind ihm
zur Entlastung vorzulegen. Die Verhand-
lungen des Landesausschusses sind öÖf-
fentlich; die Verhandlungssprache ist die
deutsche.
4. Der Staatsrat, ein zur Begutachtung
der Entwürfe von Gesetzen und Verord-
nungen berufenes Organ, besteht teils aus
Mitgliedern, die ihm kraft ihres Amts an-
gehören, teils aus vom Kaiser zu ernen-
nenden (8, von denen 3 auf Vorschlag des
Landesausschusses ernannt werden). Die
Ernennungen erfolgen auf 3 Jahre. Vor-
sitzender ist der Statthalter.
Die lebhaften, gegenwärtig im Gange
befindlichen Bestrebungen nach weiterer
Entwickelung der els-lothr Verfassung
gehen in ihrem Endziele darauf aus, EL
zu einem Bundesstaate zu machen; dazu
wäre erforderlich, daß das Reich auf die
ihm zustehende Landeshoheit Verzicht
leistet und eine selbständige Landeshoheit
begründet wird. Als Etappe auf diesem
Wege wird die Vertretung ELs im Bun-
desrate, sowie die Ausschaltung des Bun-
desrats und des Reichstages aus der Ge-
setzgebung für EL, außerdem das allge-
meine gleiche und direkte Wahlrecht zum
Landesausschusse erstrebt.
Laband Staatsrecht, 4. Aufl, 2 67—69; Leoni
Das Öffentliche Recht des Reichslandes 1. TI, Verfassungs-
recht; Rosenberg Staatsrechtliche Stellung von Elsaß-
Lothringen, 96, und in Hirths Annalen; Jellinek Über
Staatsfragmente; Bruck Verfassungs- und Verwaltungs»-
recht von Eisaß-Lothringen; Schulze u. Georg Meyer
Staatsrecht. Michaeils.
Elsaß-Lothringen (Verwaltung). Die
| oberste Leitung der Verwaltung steht dem
Statthalter zu, auf welchen mit seiner Er-
nennung die dem Reichskanzler in els-
lothr Landesangelegenheiten zustehenden
Befugnisse und Obliegenheiten über-
gehen, $ 2 Ges vom 4. Juli 1879. Er ver-
einigt also in sich die Stellung eines zur
Ausübung landesherrlicher Befugnisse
Berufenen und eines nach Maßgabe der
Reichsverfassung (also nicht dem Landes-
ausschusse) verantwortlichen Ministers,
eine der vielen Seltsamkeiten der els-lothr
Verfassung. Auch die dem Oberpräsiden-
ten durch 8 10 Ges vom 30. Jan 1871
— den sog Diktaturparagraphen — über-
tragenen außerordentlichen Befugnisse
standen bis zur Aufhebung dieses Para-
graphen, die durch Ges vom 18. Juni 1902