Full text: Rechtslexikon. 1. Band: A-K (1)

Fürsorgeerziehung. 
Das Hauptmerkmal der FE ist folgen- 
der: „Die öffentliche Erziehungsgewalt 
tritt ein und räumt damit die privaten Er- 
ziehungsrechte für den Umfang und die 
Zeit ihrer Dauer soweit aus, als sie ihr 
im Wege stehen.‘ 
I. Preußen, Ges über die FE Minder- 
jähriger vom 2. Juli 1900. 
Voraussetzungen: $ 1. Ein Minderjäh- 
riger, welcher das achtzehnte Lebensjahr 
noch nicht vollendet hat, kann der Für- 
sorgeerziehung überwiesen werden: 
1. wenn die Voraussetzungen des B 
1666 oder des B 1838 vorliegen und die 
FE erforderlich ist, um die Verwahrlosung 
des Minderjährigen zu verhüten; 
2. wenn der Minderjährige eine straf- 
bare Handlung begangen hat, wegen der 
er in Anbetracht seines jugendlichen Al- 
ters strafrechtlich nicht verfolgt werden 
kann, und die FE mit Rücksicht auf die 
Beschaffenheit der Handlung, die Per- 
sönlichkeit der Eltern oder sonstigen Er- 
zieher und die übrigen Lebensverhältnisse 
zur Verhütung weiterer sittlicher Ver- 
wahrlosung des Minderjährigen erforder- 
lich ist; 
3. wenn die FE außer diesen Fällen 
wegen Unzulänglichkeit der erziehlichen 
Einwirkung der Eltern oder sonstigen Er- 
zieher oder der Schule zur Verhütung 
des völligen sittlichen Verderbens des 
Minderjährigen notwendig ist. 
Das „kann‘‘ bedeutet nicht etwa eine 
Zweckmäßigkeitsprüfung durch den Rich- 
ter. Dieser muß vielmehr, wenn einmal 
mit der Sache befaßt, nach Lage der Vor- 
aussetzungen entscheiden. Dagegen be- 
steht für die Antragsberechtigten kein 
Zwang zum Antrage; sie können die 
Zweckmäßigkeitsfrage prüfen, anderer 
Meinung van Calker DJZ 5 56. 
An die Bedeutung der Zusatzbedin- 
gung von $ 1 Nr 1 „und erforderlich, 
um die Verwahrlosung zu verhüten“, hat 
sich eine Kontroverse in Theorie und 
Praxis geknüpft, welche die ganze Wirk- 
samkeit des $ 1 in Frage stellt. Das KG 
hat in einer Reihe von Entscheidungen: 
22 A236; 23 A 32, 37; 24 A 158; 25 A 
206; 32 A 66 und OLG 17 268g — in 
Übereinstimmung mit dem BAfHeim 36 
52 — aufgestellt, daß die FE nicht immer 
  
eintrete, wenn die Voraussetzungen des. 
B 1666, 1838 vorliegen, daß vielmehr in 
erster Linie die Armenverwaltungen beru- 
fen seien, die Anordnungen aus B 1666, 
  
559 
1838 zu finanzieren. Nur wenn die Ar- 
menbehörde versage oder wenn beson- 
ders geartete Erziehung erforderlich sei, 
komme als äußerster Notbehelf die FE in 
Frage. Diese Auffassung des KG beruht 
auf Auslegung des B 1666 Abs 1. 
8 1666: „Wird das geistige oder leib- 
liche Wohl des Kindes dadurch gefährdet, 
daß der Vater das Recht der Sorge für die 
Person des Kindes mißbraucht, das Kind 
vernachlässigt oder sich eines ehrlosen 
oder unsittlichen Verhaltens schuldig 
macht, so hat das Vormundschaftsgericht 
die zur Abwendung der Gefahr erforder- 
lichen Maßregeln zu treffen. Das Vor- 
mundschaftsgericht kann insbesondre an- 
ordnen, daß das Kind zum Zwecke der 
Erziehung in einer geeigneten Familie 
oder in einer Erziehungsanstalt oder einer 
Besserungsanstalt untergebracht wird.‘ 
Das KG sagt ungefähr so: „Die An- 
ordnung, daß ein Kind in Familie 
oder Anstalt untergebracht werden kann, 
ist nicht die einzige Maßregel, welche 
das Vormundschaftsgericht zur Verhü- 
tung der Gefahr treffen. kann. Viel- 
mehr gibt es die einfache Trennungs- 
verfügung, d. h. die Anordnung, daß das 
Kind überall, nur nicht in seiner Fa- 
milie verweilen könne. Sind aber keine 
Mittel da, weder Arbeitsfähigkeit noch 
Vermögen, weder unterhaltsfähige Ver- 
pflichtete noch Vereinshilfe, dann wird das 
von seine Familie getrennte Kind hilfsbe- 
dürftig und befindet sich in einer wirt- 
schaftlichen Notlage. Es tritt dann wie bei 
einem Waisenkinde die Unterstützungs- 
pflicht der Armenbehörde ein. Und nur 
wenn diese nicht ausreicht, die FE.“ Ein 
Teil der Armenverwaltungen hat sich dem 
widersetzt, und Bezirksausschüsse haben 
die Pflicht der Armenverwaltungen ver- 
neint. Sie haben eine höchstrichterliche 
Vertretung in einer Entsch des OVG vom 
11. Februar 1908, PrVerwBi 08 38 er- 
halten des Inhaltes: „Ein Beschluß des 
Vormundschaftsgerichts gemäß B 1666, 
wodurch die Unterbringung in geeigneter 
Familie ... zum Zwecke der Erziehung 
angeordnet wird, ist für den Armen- 
verband nicht verbindlich. ... Ebenso- 
wenig vermag die Anordnung des Vor- 
mundschaftsgerichts eine sonst nicht 
vorhandene Hilfsbedürftigkeit des Kin- 
des zu begründen. .. . Ein Beschluß 
gemäß B 1666, wonach das Kind 
zum Zwecke der Erziehung in einer
	        
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