Full text: Rechtslexikon. 1. Band: A-K (1)

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der sog juristischen oder ideellen Ge im 
Widerspruch; nämlich: 
a. Wer mit Gewalt von einem Grund- 
stück vertrieben worden ist, gilt dem De- 
jizienten gegenüber für Jahr und Tag 
(nach sächsischem Recht: 1 Jahr 6 Wo- 
chen 3 Tage; nach lübischem Recht: 
1 Jahr und 1 Tag) als in der Ge des Gu- 
tes befindlich; 
b. „der Tote erbt‘“ (d. h. macht zum 
Erben) „den Lebendigen‘ (le mort saisit 
le vif): der Erbe erlangt mit dem Todes- 
tage des Erblassers die Ge der Erbschaft, 
gleichviel ob er den Besitz der Erbschafts- 
sachen schon erlangt hat oder nicht; 
c. der Erwerb eines Grundstückes durch 
gerichtliche Auflassung verschafft schon 
vor der Besitzergreifung die Ge, desglei- 
chen ein das Grundstück zusprechendes 
Urteil (Urteilsgewere). 
Eine Unterscheidung von Besitz und 
Eigentum war dem deutschen Rechte un- 
bekannt; Ge bedeutet weder das eine 
noch das andere, sondern das tatsäch- 
liche, rechtliche Folgen hervorbringende 
Verhältnis einer Person zu derjenigen 
Sache, deren ökonomischen Nutzen die 
Person hat. (Gierke DPrivR 2 187: 
Unter Ge verstehen die Quellen des deut- 
schen Mittelalters ein äußeres Verhältnis 
der Person zur Sache, das von der Rechts- 
ordnung als Erscheinungsform eines Herr- 
schaftsrechtes an der Sache anerkannt ist.) 
Ursprünglich war die Ge lediglich ein 
Institut des Immobiliarrechts, — sie er- 
schien also als Nutzung an Grundstücken. 
Später kam die Ge an Fahrnis als Mög- 
lichkeit tatsächlicher Verfügung auf; 
schließlich ist auch an allen Rechten, die 
eine dauernde Ausübung gestatten oder 
Gegenstand einer Belehnung sein können, 
eine Ge möglich, so an dem Zehntrechte, 
der Vogtei, der Gerichtsbarkeit, den 
Zwangs-, Bann- und Hoheitsrechten, nach 
kanonischem Rechte an Kirchenämtern, 
dem Patronate, der Pfründe, endlich auch 
als Ehebesitz. 
Die Ge ist demnach die Grundlage des 
Eigentums und der iura in re aliena des 
deutschen Rechts. Beide erweisen sich 
als Unterarten desselben Rechtsinstituts, 
nämlich der mit Nutzung verbundenen 
Herrschaft über eine Sache. Die Art des 
Nutzungsrechtes wird durch bestimmte 
Zusätze näher gekennzeichnet. Man un- 
terscheidet nämlich: 
1. die faktische, leibliche, hebbende oder 
  
Gewere. 
brukende Ge, d. i. die Tatsache des Inne- 
habens, so z. B. auch die diebliche, raub- 
liche, betrügliche (d. h. unrechtmäßig er- 
langte) Ge an Fahrhabe; saisine d’effet 
im Gegensatze zur saisine de droit; 
2. die ledigliche Ge liegt dann vor, wenn 
der Berechtigte nicht durch einen anderen 
(z. B. Pächter) die Nutzungen ziehen läßt, 
sondern selbst oder durch einen Verwal- 
ter die Sache nutzt; 
3. eigenliche, Zins-, Lehns-, Satzungs- 
gewere, Ge zur Vormundschaft. Mit die- 
sen Bezeichnungen ist das Rechtsverhält- 
nis (der Rechtstitel) angedeutet, auf Grund 
dessen jemand die Nutzungen zieht, also 
als Eigentümer, Zinsberechtigter, Lehns- 
mann, Vasall, Pfandgläubiger oder Vor- 
mund. Den Gegensatz dazu bildet 
4. die gemeene oder bloote Ge, bei der 
nicht feststeht, ob und welches Recht zur 
Ge berechtigt. 
Von besonderer Bedeutung ist die 
„rechte Ge‘; es ist das diexGe desjeni- 
gen, der eine Sache binnen Jahr und Tag 
ungestört in seiner Ge gehabt hat. (Ssp 
2, 44, 1: Swilch man güt in geweren hät 
jäar und täc ane rechte widerspräche, der 
hät dar an eine rechte gewere.) Ihre ma- 
terielle Wirkung geht dahin, daß der In- 
haber entgegenstehenden Ansprüchen ge- 
genüber gesichert ist, sobald der Präten- 
dent trotz erlangter Kenntnis von der Ge 
des Inhabers seine Ansprüche nicht bin- 
nen Jahr und Tag geltendgemacht, son- 
dern „sich verschwiegen‘ hat. 
Die rechte Ge ist also rechtsvernich- 
tend, während die mit ihr vergleichbare 
Ersitzung des römischen Rechts rechtser- 
zeugend ist. 
Die prozessualen Folgen der materiel- 
len Wirkung der rechten Ge sind: 
a. Der Beklagte braucht sich auf eine 
Klage um das Gut erst im nächsten ech- 
ten Thinge seit Erhebung der Klage ein- 
zulassen; 
b. der Beklagte braucht seinen Rechts- 
vorgänger nicht zu nennen, wofern er mit 
6 Eideshelfern beschwört, daß er das Gut 
seit Jahr und Tag in seiner Ge hat. Er 
behält das Streitobjekt dann selbst für 
den Fall, daß er es von einem Nichteigen- 
tümer erworben hatte. 
Der Inhaber der Ge hat also nicht nur 
die günstigere Rolle des Beklagten, d. h. 
kann den Nachweis eines besseren Rech- 
tes zur Ge seitens des Klägers verlangen, 
sondern ist auch „näher zum Beweise“,
	        
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