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fig im Munde, deren wahren Begriff
erfassen sie aber gar nicht und kön-
nen auch gar nicht mit den zugehö-
rigen Gefühlstönen sie begleiten. Dies ist
eine Folge davon, daß der Debile ein kras-
ser Egoist ist, der altruistischen Gefühlen
wegen seiner verminderten Intellektuali-
tät und geringen Urteilsfähigkeit nicht zu-
gänglich ist; hinzu kommt, daß er seine
Leistungen und die Beziehungen zu seiner
Umgebung sehr zu überschätzen geneigt
ist. Hieraus resultiert weiter eine Art von
Beeinträchtigungswahn! Dieser weicht
zuweilen, sobald durch Belehrung oder,
wenn auch selten, vielleicht durch das
eigene Gefühl dem Debilen seine vermin-
derte Leistungsfähigkeit sich aufgedrängt
hat, einer allzu großen Beanspruchung
von Schonung und Nachsicht für die eige-
nen Verfehlungen; die anderer, auf der
gleichen Stufe wie er selber Stehender,
tadelt er jedoch brutal, weist sie rück-
sichtslos in ihre Schranken zurück und
überliefert sie ebenso rücksichtslos der
Verantwortung. Man hat diese Art von
Imbezillen auch als antisoziale Charaktere
bezeichnet (Sollier) und sie den asozia-
len apathischen Imbezillen gegenüberge-
stellt. Gerade sie geraten auch häufig zur
forensischen Abhandlung; bei dieser han-
delt es sich dann vornehmlich um ge-
schlechtliche Delikte (Stuprum bei Män-
nern, bei imbezillen Weibern um An-
lockung von Männern, denen sie nach-
träglich Vergewaltigung unterschieben).
Ziehen hebt hervor, daß die weitere
Lebensentwickelung des Debilen von der
sozialen Stellung und der pekuniären Lage
seiner Eltern in hohem Grade abhängig
ist: der Arme fällt sogleich der Vaga-
bondage und dem Verbrechertum an-
heim, der Reiche posiert zunächst den
Lebemann und ist ja auch in der Lage
dazu; er ist der Elegante, spielt, macht
Schulden und gerät am Ende — meist we-
gen Vergehens gegen das Eigentum —
auf die gleiche Bahn wie der Arme. Re-
gelmäßige Arbeit ist beiden, dem Armen
ebenso wie dem Reichen, fremd! Der
Reiche vermag sich ja diesen Luxes zu lei-
sten und ist dazu noch mehr durch seine
Erziehung herangezüchtet, die trotz großer
Aufwendungen im ganzen großen recht
fruchtlos geblieben und eben gerade aus-
reichend gewesen ist, um seinen Schwach-
sinn zu bemänteln. Die Persönlichkeit
geistig und sittlich wirklich zu bilden hat
Idiotie.
sie aber nicht vermocht; gerade der
Mangel an ethischen Begriffen kennzeich-
net beide und zeitigt bei dem Reichen
nicht minder als beim Armen das gleiche
traurige Ergebnis! Dieser Defekt ist es
aber auch, der den Debilen dem Degene-
rierten oder „pathologischen Charakter“‘
annähert; eine Scheidung dieser Klassen
ermöglicht sich nur dadurch, daß bei dem
Debilen das intellektuelle Minus doch grö-
Ber und mehr hervorspringend ist als bei
dem Degenerierten oder Desequilibrier-
ten, der den Grenzfällen des Irreseins an-
gehört, während der Debile zu den ori-
ginär Schwachsinnigen zählt. Ist schon
im allgemeinen die Forderung zu beach-
ten, daß bei allen zur strafrechtlichen Ver-
handlung gelangenden und irgendwelche
Zweifel an ihrer geistigen Gesundheit ver-
anlassenden Individuen deren ganze
geistige Entwickelung, ihre Anamnese zu-
gleich mit einer genauen körperlichen und
geistigen Untersuchung und der psycho-
logischen Analyse ihres zeitigen und ver-
gangenen Lebens klarzustellen sind, so
noch im besonderen bei dem Imbezillen
oder Debilen! So führt Dornblüth
z. B. an, daß ein Schwachsinniger „seine
wiederholten Pferdediebstähle damit be-
gründete, daß er von jeher eine so große
Vorliebe für Pferde gehabt hätte‘! Diese
Begründung ist charakteristisch; denn sie
zeigt zugleich mit dem Mangel an Kritik
auch die Impulsivität und den krankhaf-
ten Egoismus der Imbezillen, die ihrer
eigenen Person, alles sittlichen Gefühls
bar, möglichst viel zugute tun möchten.
Wie Mendel hervorhebt, kommt es
bei all diesen Imbezillen zu einem Kampf
zwischen derf assoziierenden und kon-
trastierenden Vorstellungen, zu einer
Überlegung fast gar nicht oder nur ober-
flächlich. Mendel begutachtete einen sol-
chen Kranken wegen Vergehens gegen
die Sittlichkeit; befragt, antwortete dieser
charakteristisch: „Erst tue ich, was mir
gerade einfällt, und nachher überlege ich
es mir!“
Eine spezielle Form der Idiotie bildet
weiter der Kretinismus, eine Entwicke-
lungskrankheit, bei der der geistige De-
fekt sich mit einer körperlichen Mißgestalt
paart. Hierbei ist eine Hemmung des
Knochenwachstums mit einer Hypertro-
phie der Schilddrüse und fast stets auch
mit einer eigentümlich schwammigen Ver-
änderung der Haut und der Schleimhäute