ÄAnstaltsvormund. 95
ihm hineinreden, ohne hinreichendes Ver-
ständnis für die augenblickliche Entwicke-
lung des Kindes und die Disziplin der An-
stalt zu besitzen. Deshalb ist es ein nahe-
liegender Gedanke, dem Leiter der Anstalt
auch die vormundschaftliche Gewalt zu
geben, sei es als gesetzliche, sei es als
von Fall zu Fall (Dativtutel) gegebene Ge-
walt. Gegen diesen naheliegenden Ge-
danken sprechen jedoch die üblen Erfah-
rungen, die man oft da gemacht hat, wo
man tatsächliche Obsorge und Aufsicht in
eine Hand gelegt hat. Ein Ausweg bietet
sich in der Richtung, daß man nur Anstal-
ten von gewisser Qualität die A(nstalts-)
V(ormundschaft) anvertraut und auch
diese Anstalten einer sachverständigen
Oberaufsicht unterwirft. Diesen Weg
hat unsere Gesetzgebung gewählt.
Die gleichen Schwierigkeiten muß es
bereits in alter Zeit gegeben haben, ohne
daß wir genau wissen, wie sie gelöst wur-
den. So wissen wir zwar, daß Trajan eine
Anstalt für verwahrloste Kinder in Velleja
gegründet hat. Über ihre Leitung ist je-
doch nichts bekannt. Im Mittelalter
herrschte für die kirchlichen, d. i. klöster-
lichen Anstalten das System der völ-
ligen Selbständigkeit der Anstaltslei-
tungen.
Aufsichtsbestimmungen finden sich zu-
erst in Frankreich, woselbst die ganze
Fürsorge für die verlassene und gefähr-
dete Jugend sich um die AV gruppierte
und noch gruppiert. Mit dem übrigen
französischen Rechte kam auch die
franzAV nach Deutschland. Nach dem
franzGes vom 17. Dez 1796 steht jedes
öffentlich unterstützte Kind ohne weiteres
unter öffentlicher Vormundschaft, der
Vormundschaft der öffentlichen Verwal-
tungsbehörde weicht in diesem Falle
selbst die elterliche Gewalt. Im Reichs-
land beruht der derzeitige Zustand noch
auf dieser Grundlage. Ähnlich war es
auch im Gebiete des „rheinischen‘‘ Rech-
tes bis zur prVormundschaftsordn von
1875: „Alle in Anstalten verpflegten Zög-
linge, gleichviel unter welchem Rechts-
titel sie in die Anstalt aufgenommen wur-
den, stehen unter AV.“ Die prVormO
stellte diese AV der gewöhnlichen gesetz-
lichen Vormundschaft gleich.
Über die weitere historische Entwicke-
lung vgl unter Berufsvormundschaft.
Die AV des geltenden Rechts schließt
sich an das Einf-B 136 an:
„Unberührt bleiben die landesgesetz-
lichen Vorschriften, nach welchen
1. der Vorstand einer unter staatlicher
Verwaltung oder Aufsicht stehenden Er-
ziehungs- oder Verpflegungsanstalt oder
ein Beamter alle oder einzelne Rechte und
Pflichten eines Vormundes für diejenigen
Minderjährigen hat, welche in der Anstalt
oder unter der Aufsicht des Vorstandes
oder des Beamten in einer von ihm aus-
gewählten Familie oder Anstalt erzogen
oder verpflegt werden, und der Vorstand
der Anstalt oder der Beamte auch nach
der Beendigung der Erziehung oder der
Verpflegung bis zur Volljährigkeit des
Mündels diese Rechten und Pflichten be-
hält, unbeschadet der Befugnis des Vor-
mundschaftsgerichts, einen anderen Vor-
mund zu bestellen;
2. die Vorschriften der Nr 1 bei unehe-
lichen Minderjährigen auch dann gelten,
wenn diese unter Aufsicht des Vorstandes
oder des Beamten in der mütterlichen Fa-
milie erzogen oder verpflegt werden;
3. der Vorstand einer unter staatlicher
Verwaltung oder Aufsicht stehenden Er-
ziehungs- oder Verpflegungsanstalt oder
ein von ihm bezeichneter Angestellter der
Anstalt oder ein Beamter vor den nach
B 1776 als Vormünder berufenen Perso-
nen zum Vormunde der in Nr 1, 2 be-
zeichneten Minderjährigen bestellt werden
kann;
4. im Falle einer nach den Vorschriften
der Nr 1 bis 3 stattfindenden Bevormun-
dung ein Gegenvormund nicht zu bestel-
len ist und dem Vormunde die nach
B 1852 zulässigen Befreiungen zustehen.‘
Die vormundschaftlichke Gewalt um-
faßt nach B 1793 „das Recht und die
Pflicht für die Person und das Vermögen
des Mündels zu sorgen, insbesondere den
Mündel zu vertreten‘. Von dieser Gewalt
können also dem Anstaltsvormund auch,
Teile übertragen werden, so daß AV und
Einzelvormundschaft, jede als „Teilvor-
mundschaft“, neben einander bestehen
können. Die Bestimmung, daß bei der
Vormundbestellung auf die Religion des
Mündels Rücksicht zu nehmen ist, findet
auf AV keine Anwendung.
Dagegen untersteht auch der Anstalts-
vormund der Aufsicht des Vormund-
schaftsgerichtes. Die Befreiungen des
B 1852 bestehen nämlich nur darin, daß
der Anstaltsvormund bei Anlegung von
Geld den Beschränkungen des B 1809