Thronbesteigung. 99
Wirkungen des bisherigen Systems gelitten hatten, ihm ein ehrendes Angedenken.
In einem Nachrufe aus jenen Tagen hieß es:
„Es war der Gaben Füll', in der so hell
Durch lange Zeit wir glänzen ihn gesehen:
Des Wissens Schatz, der Blick so scharf und schnell,
Des Schönen tiefes, inniges Verstehen,
Des Witzes nie versiegender Strudelgquell,
Des frischen Geistes stets lebendig Wehen,
Kurz, alles war, was ihn so reich beglückte,
Kostbarer Schmuck — der nur ein Opfer schmückte.“
Waffenschmuck und Feldzeichen der Offiziere hüllten sich in Trauerflor,
schwarze Trauerbänder hingen von den Spitzen der Fahnen und Standarten
herab, die Trommel wirbelte in gedämpftem Klang, die heiteren Weisen der
Feldmusik verstummten für die nächste Zeit. Nur auf Stunden schwand der
Trauerflor, als König Wilhelm I. die Abordnungen der neu errichteten Regi-
menter nach Berlin beschieden hatte, um ihnen die Fahnen zu übergeben.
Auf dem schönen Platze zwischen der breiten Straße „Unter den Linden“
und dem königlichen Schlosse, wo die Denkmäler der preußischen Helden aus
den Befreiungskriegen sich erheben, die des Marschalls Vorwärts, von Gneisenau,
Bork, Scharnhorst, Bülow, wo vor allen das herrliche Reiterstand bild Friedrichs
des Großen gegenüber den Fenstern des königlichen Palais weit über die Wipfel
der Linden emporragt — da waren die Abgesandten des alten und des jungen
Heeres um ihren königlichen Kriegsherrn versammelt. Eine aus allen Truppen
zusammengesetzte Kompanie holte die sämtlichen neuen Fahnen aus dem könig-
lichen Schlosse ab und marschierte unter den Klängen alter Siegesmärsche in
breiter Front bis zum Friedrichs-Denkmal hinab. Es war ein prächtiger An-
blick, dieser wehende, wallende Fahnenwald! Und die zerrissenen und zer-
schossenen Fahnen des alten Heerstammes sahen so ehrwürdig und ernst auf
ihre jüngeren Schwestern, als wollten sie ihnen zuflüstern von den Heldenthaten,
deren Zeugen sie gewesen waren auf so vielen Schlachtfeldern nah und fern,
auf den Gefilden Ungarns und Italiens, auf den märkischen Sandflächen, bei
Großbeeren, bei Dennewitz, bei Leipzig und bei Belle-Alliance.
Der Zwist mit der Volksvertretung spitzte sich leider immer mehr zu und
drohte dem Könige die Liebe des Volkes zu entfremden, ja das ganze Staats-
leben zu zerrütten. Am 14. Juli 1861 machte sogar ein Student, Oskar
Becker, in Baden-Baden einen Mordversuch auf den Monarchen, verwundete
ihn aber nur leicht. Nach der Krönung des Königs, die am 18. Oktober 1861
in Königsberg stattfand, vermehrte sich leider das Mißtrauen in dessen kon-
stitutionelle Absichten. Unter diesen Umständen fielen die Neuwahlen im De-
zember 1861 zu gunsten der Fortschrittspartei aus, und dies hatte wiederum
im März 1862 die Entlassung des Ministeriums der „neuen Ara“ und die
Berufung weniger freisinniger Ratgeber mit dem Prinzen von Hohenlohe an
der Spitze zur Folge, an dessen Stelle am 23. September 1862 der bisherige
Gesandte zu Paris, Otto von Bismarck-Schönhausen, trat. Unerschütter-
lich hielt König Wilhelm an der bereits thatsächlich durchgeführten Heeres-
reorganisation, „seinem eigensten Werke“, fest, auch dann noch, als im Oktober
7