Nach dem Jahre 1870. 101
Unter seiner Oberleitung reihte sich Sieg an Sieg, und nach dem Falle
der stolzen Hauptstadt Frankreichs konnte sich der Oberfeldherr der deutschen
Heere im alten Palast der französischen Könige, zu Versailles, die ihm von den
Fürsten Deutschlands dargebrachte Kaiserkrone auf das Haupt setzen.
In rastloser emsiger Thätigkeit und unermüdlicher Treue widmete sich
Kaiser Wilhelm seit dem Friedensschlusse den Regierungsgeschäften, sowohl der
Vollendung der militärischen Organisation des Deutschen Reiches, als auch der
inneren Reform des preußischen Staatswesens. Auch den äußeren Frieden zu
sichern, gelang durch Versöhnung der Gegensätze und Abneigungen. Die hier
und da noch obwaltenden Mißstimmungen wußte er zu zerstreuen und gelegent-
lich persönlichen Zusammentreffens mit den hervorragendsten Monarchen Europas
und deren Ratgebern die freundnachbarlichen Beziehungen zu festigen. Das
gute Einvernehmen zwischen Deutschland und Osterreich hatte sich schon während
des Deutsch-französischen Krieges wieder herstellen lassen. Ein Besuch, den Kaiser
Wilhelm am 11. August 1871 dem Kaiser Franz Joseph in Ischl abstattete,
und eine im September zu Salzburg herbeigeführte Verständigung beider
Monarchen, bei welcher auch die beiden Reichskanzler zugezogen worden waren,
befestigten die guten Beziehungen noch mehr, die sich inzwischen zu einem innigen,
von beiden Seiten wertgeschätzten Bündnis gestaltet haben. Durch den später
erfolgten Beitritt Italiens ist dann der sogenannte „Dreibund“ entstanden,
schon seit Jahren und heute noch der sicherste Hort des europäischen Friedens,
den kein unruhiger Nachbar im Osten oder Westen zu stören wagen darf, wenn
er nicht die Dreibundsmächte zu vereinter Abwehr in Waffen sich gegenüber
sehen will.
Leider vermochte das friedliche und gesegnete Wirken des Kaisers nicht zu
verhindern, daß eine mit der bestehenden Staats= und Gesellschaftsordnung
unzufriedene und auf den gewaltsamen Umsturz derselben hinarbeitende Partei
im Volke, namentlich unter den Arbeitern der großen Städte, mehr und mehr
Boden gewann. Die Verwirrung, welche die verderblichen Irrlehren der Sozial-
demokratie in unruhigen Köpfen anrichteten, hatte wiederholt arge Ausschreitungen
zur Folge. Als dann gar im Jahre 1878 zwei Verbrecher, Hödel und Nobiling,
rasch hintereinander ruchlose Mordversuche gegen die Person des greisen Mo-
narchen unternahmen, erfolgte am 21. Oktober 1878 der Erlaß eines gegen die
gemeingefährlichen Wühlereien der Umsturzpartei gerichteten besonderen Gesetzes,
das erst im Jahre 1890 wieder aufgehoben werden konnte. Aber nicht nur
mit der Strenge des Gesetzes schritt der Kaiser gegen Ausschreitungen ein,
sondern er glaubte zugleich auch die versöhnende Hand bieten zu sollen, indem
er zur Abstellung offenbarer Mißstände, namentlich auch in dem Verhältnis
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die thatkräftige Mitwirkung der
kaiserlichen Regierung in Aussicht stellte. Das geschah in der vielgenannten
„kaiserlichen Botschaft“ vom Jahre 1881, welche der Ausgangspunkt für
die ganze neuere sozialpolitische Gesetzgebung mit ihren vielen segensreichen
Einrichtungen, Fabrikaussicht, Arbeiterschutz, Krankheits-, Unfall-, Invaliditäts=
und Altersversicherung, geworden ist.