Full text: Fünfzig Jahre aus Preußens und Deutschlands Geschichte.

104 Die Zeit der Militärreorganisation. 
Die früheren Candwehreinrichtungen. Da wir glauben, dieses Buch werde 
in die Hände vieler jungen Leute gelangen, welche entweder dauernd oder vor- 
übergehend dem Militärstande angehören, so dürfte der Verlauf jener hoch- 
wichtigen Veränderungen, welche in der Wehrverfassung Preußens vor sich ge- 
gangen sind, für einen größeren Kreis von Interesse sein. 
Wir werfen unfre Blicke erst nach rückwärts. Als Anfang der fünfziger 
Jahre die Frage der Militärreorganisation auftauchte, wollte man eine engere 
Verbindung der Landwehr-Infanterieregimenter mit den Linienregimentern 
herbeizuführen suchen; man wünschte das lebendigere Interesse der Linie für die 
Landwehr hervorzurufen und die Neuformation der Landwehr-Kavallerie- 
regimenter zu erleichtern. Aber diese und andre zweckdienliche Einrichtungen 
bildeten nur die Vorläufer zu wichtigeren Reformen. Damals war vornehmlich 
die Neubildung der Brigadeverbände mittels Verschmelzung der Landwehr mit 
den Linienbrigaden zunächst ins Auge gefaßt worden. Die Unerläßlichkeit dieser 
Reformen hatte sich vornehmlich während der Mobilmachung im Jahre 1859 
zur Zeit des italienischen Krieges herausgestellt, und sie gelangten zur Aus- 
führung, als die Zügel der Regierung in die Hände des mit den Bedürfnissen 
der Armee innigst vertrauten neuen Kriegsherrn übergegangen waren. Nie- 
mand ist heute vorhanden, der wünschen könnte, der König hätte seine Ab- 
sichten ausgegeben. Wie kam es, daß seine Pläne im Lande anfänglich so 
wenig Anklang fanden? 
Es verlohnt sich wohl, diese Frage zu stellen, weil die Durchführung der 
neuen Wehrverfassung jenen leidigen Konflikt mit der preußischen Volksver- 
tretung hervorrief, welcher oft lähmend auf den ruhigs-sicheren Gang der Re- 
gierung in einer schon an sich schwierigen Zeit einwirkte. Die Gegner der 
Veränderung des Wehrsystems ließen sich von durchaus patriotischen Er- 
wägungen leiten, die von ihnen und vielen andern für unantastbar gehalten. 
wurden. Im Jahre 1806 war die geschulte Armee geschlagen worden — 1813 
dagegen hatten die Landwehren, erst kurze Zeit im Waffendienste geübte Leute, 
Wunder der Tapferkeit verrichtet. Darauf war erfolgt, was ja bei einem 
schlichten, wahrheitsliebenden Volke unausbleiblich ist: patriotische Begeisterung 
hatte die an und für sich schon genugsam preiswürdigen Thaten der preußischen 
Landwehren übermäßig verherrlicht. Wer wollte auch angesichts der noch leben- 
den wackeren Kämpfer auf die Schattenseiten und Mängel eines Wehrsystems 
hinweisen, durch welches so Großes vollbracht worden war? Erhebende Er- 
innerungen, Verehrung für die noch lebenden Zeugen jener unvergessenen Groß- 
thaten erzeugten die Meinung, längerdauernde Schulung des Heeres sei über- 
haupt nicht von nöten. Von diesem Gesichtspunkte aus war daher mehrfach 
schon auf Abkürzung der wirklichen Dienstzeit gedrungen worden. Mit andern 
Augen sah jedoch der Fachmann die Sache an. Wemn sich die von dieser 
Seite betonten Ansichten im Volke nicht Geltung verschafften, so kam dies daher, 
weil eine gründliche Kenntnis der Verhältnisse überhaupt nicht. vorhanden war, 
noch weniger eine Ahnung des eigentlichen Kernpunktes der in Vorschlag ge- 
brachten Maßregeln, dann endlich, weil man überhaupt nicht gern mit Darlegung 
der Mängel des Militärwesens vor die Offentlichkeit treten mochte. So hatten
	        
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