112 Die Zeit der Militärreorganisation.
ist man nach 1870 zu weiterer Vereinfachung, und zwar dahin vorgeschritten,
daß nur die reitende Artillerie das kleinere Kaliber beibehielt, während die
übrige Feldartillerie das schwerere führt. Beide Geschütze sind heute in ver-
besserter Konstruktion vorhanden. Bezüglich der allgemeinen Einführung des
rauchschwachen Pulvers auch für die Artillerie und in bezug auf die mögliche
Verwendung von Revolverkanonen, Maximgeschützen und ähnlichen neuen Er-
findungen auch für das Feldgefecht sind die Versuche noch nicht abgeschlossen.
Die heutigen gezogenen Geschütze der europäischen Heere unterscheiden sich
in Konstruktion und Trefffähigkeit ebensowenig voneinander, wie einst die
glatten Waffen der napoleonischen Kriegsperiode. Die gezogenen Geschütze
allein thun es freilich auch nicht — wenn's darauf ankommt. Vor allem muß
der heutige Artillerist durch fleißiges Exerzieren tüchtig im Schießen und im
sorgfältigen Richten der Geschütze eingeübt werden. Die reitende Artillerie muß
dreist fahren können und sich auf Behandlung der Pferde verstehen, wenn die
vorzüglichen Geschütze so ausgenutzt werden sollen, wie es zu wünschen ist. Viel
kommt immer auf die richtige Schätzung der Entfernungen anz in gut gewählter
Verteidigungsstellung, wenn man jene vorher abmessen, ja sie wohl gar be-
zeichnen kann, wie es die Osterreicher bei Königgrätz gethan, da werden gezogene
Geschütze das Höchste leisten. Im raschen Angriff aber, oft im Galopp abge-
protzt, Richtung genommen — wie schwierig ist es da, die Entfernung abzu-
schätzen! Nächstdem darf die Artillerie, soll sie Großes wirken, nicht auf viele
Punkte zersplittert sein, sondern eine gewisse Zahl von Batterien muß da, wo
die Entscheidung liegt, vereinigt werden können. Man nennt das eine „Artillerie-
masse“ und denkt dabei weniger an die große Zahl der Kanonen, als an das
Zusammenwirken der vorhandenen Geschütze auf einen Punkt, um dann, wie
in eine Bresche oder eingeschossene Mauerlücke bei einer belagerten Festung, die
Infanterie oder andre Truppen zum Sturm in die entstandenen Offnungen
oder Gassen hineinzuwerfen.
Die Truppen erschienen in der neuen Uniformierung und der praktischeren
Ausrüstung zum erstenmal während der großen Manöver bei Berlin im
Jahre 1843. Damals waren das Gardekorps, das III. Armeekorps und eine
größere Anzahl Kavallerieregimenter zu Ubungen in der Gegend zwischen
Berlin und Frankfurt a. d. O. ausgerückt. König Friedrich Wilhelm IV., be-
gleitet von den Prinzen und Prinzessinnen, umgeben von fürstlichen Gästen,
darunter auch Kaiser Nikolaus von Rußland, und gefolgt von einer zahl-
reichen Suite preußischer und fremdländischer Offiziere, sprengte unter dem
Hurrarufe der Truppen nach dem rechten Flügel und nahm in der Nähe der
Königin die Parade ab. Aus allen Teilen Europas waren Zuschauer ein-
getroffen.
Wert und 3weck der Manöver. Schon seit dem Jahre 1815 haben mit
wenigen Ausnahmen jährlich größere Truppenübungen des preußischen Heeres
stattgefunden. Sie trugen wesentlich dazu bei, den militärischen Geist des
„Volkes in Waffen“ zu beleben, und sie gestatteten zugleich, die Fortschritte zu
verfolgen, durch welche sich das preußische Wehrsystem, das damals noch so sehr
von allen andern Wehrsystemen abwich, mehr und mehr vervollkommnete.