128 Die Zeit der Militärreorganisation.
läßt meist nur der eigne Augenschein erkennen, und diesen kann sich der Feld-
herr nicht überall verschaffen. Vielleicht mit Zweifel im Herzen verläßt der
Feldherr, wenn das Kampfgetöse verstummt, das Schlachtfeld und wird erst
im Laufe der Nacht oder häufig erst am andern Morgen erfahren, daß der
Sieg von den Seinen errungen worden war. Es erklärt sich daraus, warum
man bei den neueren Schlachten so wenig von sofortiger und allgemeiner Ver-
folgung des geschlagenen Feindes zu berichten weiß.
Die Unterbefehlshaber, die kommandierenden Generale, bleiben an den aus-
schlaggebenden Punkten die eigentlichen Leiter des Kampfes. Doch auch die
Unterbefehlshaber befinden sich, wenn auch in geringerem Maße, in der Lage
des Oberbefehlshabers. Was früher der Fall war, gilt auch heute noch. Der
Korpsführer, welcher ein Dritteil seiner Truppen in anstrengenden Märschen
verliert, um mit zwei Dritteilen zu rechter Stunde das Schlachtfeld zu erreichen,
braucht den Tadel, der gegen ihn erhoben werden könnte, nicht zu scheuen.
Hauptsache bleibt, daß in entscheidender Weise zum Erfolge beigetragen
worden ist. Kein Vorwurf trifft den Führer, welcher, kühn den eignen Rück-
zug gefährdend, rechtzeitig noch mit seiner Mannschast auf der Walstatt er-
scheint. Auf der eine halbe Meile langen Front eines Armeekorps findet sich
oft nur eine einzige Stelle, an welcher das Vordringen in die feindliche Stellung
möglich ist, und das Schicksal der Gesamtanstrengung von 30 000 Mann hängt
davon ab, ob gerade jener schwache Punkt des Gegners von dem nächststehenden
Regiments= oder Bataillonskommandeur richtig erkannt wird. Ja selbst ein
Offizier niederen Grades, mit gesundem Blick ausgerüstet, kann heute noch in
der Schlacht den Anstoß zu großen Wandlungen geben. Unter allen Umständen
hat sich der Wert des Scharbfblicks und der ruhigen Entschlossenheit der ver-
stärkten Wirkung des Schnellfeuers und der gezogenen Geschütze gegenüber
sicherlich nicht verringert. Sehr richtig bemerkt der französische Oberst Desprels
in seinen unlängst erschienenen „Lecons de la guerre“: „Die Preußen haben
den Krieg nicht verändert, aber durch eine Anstrengung, welche einzig in der
Geschichte dasteht, haben sie während eines langen Friedens das Studium des
Krieges generalisiert. Während dieser Zeit vernachlässigten die Völker, mit
denen sie seit fünfzehn Jahren in Streit gerieten, diese wichtigen Studien, und
daher rührt ihre Inferiorität."
Aber die Kriegführung wird in der Zukunft sicher noch größeren Wand-
lungen entgegengehen, sie wird daher auch viel gewaltigere Zusammenstöße mit
sich bringen, als die der jüngsten Vergangenheit. Erscheinungen, wie die
blutigen Augusttage von 1870, an denen sich 400 000 Mann in heißem
gasee über die nächste Umgebung von Metz ergossen, werden nicht vereinzelt
astehen.
Und ein ganz andres Bild wird der Vormarsch in Feindesland darbieten,
wenn uns die harte Notwendigkeit auferlegt oder wenn es uns vergönnt würde,
noch einmal in das Gebiet unfres westlichen Nachbarn einzurücken. Denkt
man sich die französische Armee innerhalb der neu geschaffenen festen Grenz-
linie aufmarschiert, so müßte die feindliche Streitmacht den Zwischenraum dieser
Linie von Schutzwehren zu einem guten Teile füllen; die Lücken zwischen den