Full text: Fünfzig Jahre aus Preußens und Deutschlands Geschichte.

146 Fürst Otto von Bismarck-Schönhausen, der erste deutsche Reichskanzler. 
während die in Berlin vorherrschenden Bestrebungen auf den Bundesstaat 
abzielten. Auf letzterem Wege erschien freilich, wie einstweilen die Mehrzahl 
der Glieder des Deutschen Bundes dachten, die Einheit Deutschlands als 
letztes Ziel ebenso schwer erreichbar, wie eine Einigung zwischen den Einzel- 
staaten und namentlich zwischen den beiden um die Vorherrschaft streitenden 
Großmächten, solange die alte Bundesverfassung bestehen blieb. 
Das Ansehen Osterreichs, das unterdessen in die Reihe der verfassungs- 
maßig regierten Staaten Europas eingetreten war, war seitdem in der öffent- 
lichen Meinung ersichtlich gestiegen. In Deutschland wurde das Drängen 
nach Fortentwickelung des öffentlichen Lebens auf dem Wege des Parlamenta- 
rismus wieder stärker und stärker; wie sollte dem Verlangen des deutschen 
Volkes nach höherer Geltung im Rate der Nationen entgegengetreten werden 
können, nachdem den Italienern die Herstellung größerer Einheit gelungen 
war und sie sich reif genug zur Ausübung konstitutioneller Rechte und Pflichten 
gezeigt hatten! Unter welchem Vorwande ließ sich dem deutschen Volke, das 
im Süden, im Westen sowie inMitteldeutschland längst mit dem Verfassungs- 
leben sich vertraut gemacht hatte, eine freiheitliche Vertretung bei dem obersten 
Bundesregiment und die Weiterentwickelung seines Gesamtverfassungslebens 
verweigern, nachdem minder gebildete Völker das gleiche Ziel erreicht hatten? 
Kurz, die Umstände zwangen, der Reform der obersten Bundesgewalt 
ernstlich näher zu treten. Die alten Parteien rührten sich gewaltig, die „groß- 
deutsche Partei“ sowohl, welche zu Osterreich hielt, wie die kleindeutsche“ 
oder kurzweg die „deutsche Partei“, die ehemaligen Gothaer, welche von einem 
Zusammengehen mit OÖsterreich nichts wissen wollten und auf der Seite Preußens 
standen. Es war durchaus an der Zeit, daß die kleineren Fürsten Deutsch- 
lands sich mehr als deutsche Fürsten zeigten, d. h. den inneren Zuständen 
und Interessen Deutschlands mehr, als bisher geschehen, Rechnung trugen, ja 
nötigenfalls zu gunsten des Gesamtvaterlandes auf einen Teil ihrer Sou- 
veränitätsrechte verzichteten. Vorher schon waren mehrere Vorschläge, die auf 
eine Reform der Bundesverfassung abzielten, ernstlicher erwogen worden, 
so das aus dem Geiste des ehemaligen Staatskanzlers Metternich geborene 
Delegiertenprojekt, ein Gedanke, welchen der sächsische Minister von Beust 
zu dem seinigen gemacht hatte. Hiernach wollte man ein Bundesdirektorium 
mit einer aus Bevollmächtigten der Ständeversammlungen der einzelnen 
Staaten Deutschlands gebildeten Nationalvertretung schaffen. Jetzt sollte ein 
nach Frankfurt a. M. berufener „Fürstentag" die Bundes-Reformfrage in 
reiflichere Erwägung ziehen, ja einer neuen Verfassung Gestalt und Leben 
verleihen. 
Wenn es gelang, für diese Absichten die Mehrheit des deutschen Volkes 
zu gewinnen und hierdurch Preußen auf eine Linie mit Bayern und den 
deutschen Mittelstaaten herabzudrücken, deren Bewohner dem Donaureiche viel 
geneigter waren als der preußischen Monarchie, so konnte es nicht ausbleiben, 
daß Osterreich die Oberherrschaft infolge der ihm zuerteilten Bundesober= 
leitung zufiel; dann wurde den beiden deutschen Großstaaten der Besitz ihrer 
nichtdeutschen Provinzen gewährleistet und damit auch Osterreich die Aussicht
	        
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