262 Siebentes Buch. Erstes Capitel.
Unter den so vielseitig productiven religiösen Kämpfen der eng-
lischen Nation in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts
war ein System von philosophischen Gedanken aufgestellt worden,
worin weder von einer Offenbarung durch göttliche Veranstaltung,
noch auch nur von dem menschlichen Geiste eingeborenen Ideen die
Rede ist, alle menschlichen Begriffe vielmehr von den Sinnen und
der Erfahrung hergeleitet werden, sei es unmittelbar oder durch Re-
flexion; ungefähr wie sich in Indien, bei allem Spiritualismus der
natürlichen Richtung, den Lehren der Veda's gegenüber dennoch eine
Ansicht erhob, welche Gott nicht leugnet, aber die Welt zu erklären
meint, ohne auf die Idee von Gott zurückzukommen. John Locke,
der jene Gedanken mit folgerechtem Scharfsinn und unendlichem Fleiß
nach allen Seiten hin entwickelte, fand unter seinen Landsleuten in
England auch wieder Gegensatz und ebenbürtigen oder überlegenen
Widerspruch: der Herrschaft seiner Meinungen wurden durch andere
nicht minder starke Ueberzeugungen Schranken gezogen: auf einen
allgemein eingreifenden Einfluß hätten sie von daher wohl an und
für sich niemals Aussicht gehabt.
Da geschah nun, daß eins der größten schriftstellerischen Talente,
welche unter den Franzosen jemals erschienen sind, Voltaire, bei einem
Aufenthalt in England sich mit diesen Ansichten durchdrang, und den
Entschluß faßte, sie mit seiner ganzen Macht in der Welt zu ver-
breiten.
Denn wohl dürfen wir dem gelesensten französischen Autor jener
Zeit Macht zuschreiben.
Die ganze höhere Gesellschaft von Europa sprach französisch,
lebte in der französischen Literatur. Ohne aufzählen zu wollen, wo-
durch dies im Laufe der Zeiten vorbereitet worden war, bemerken
wir nur, daß damals eben die Gegensätze in den Richtungen des
französischen Wesens dafür entscheidend geworden sind: die Aufstellung
der Monarchie Ludwigs XIV, seine Verbindung mit allen Höfen,
denen der seine zum Muster diente sowohl, als der Widerstand,
den er erweckte, die Zerstreuung der Hunderttausende, die vor seinen
Neligionsverfolgungen flohen, über ganz Europa. Die öffentlich an-
erkannte Literatur, die in Paris einen großartigen Aufschwung nahm,
und die oppositionelle, welche sich von Holland aus über Europa ergoß,
wirkten dabei zusammen. Die artistische und religiöse Strenge der
einen, und die freie Bewegung der andern ergänzten einander. Die
frranzösische Sprache erwarb, man möchte sagen, eine grammatische