Vegetationsverhältnisse. 105
Vorstellung davon zu bekommen, ja selbst dann nicht, wenn wir von einem
Pfade aus, der mitten durch den Urwald gebahnt wäre, links und rechts
blickend unsere Beobachtungen anstellen würden. Man muß selbst hindurch-
dringen durch das pfadlose Chaos, mit eigener Kraftanstrengung sich einen
Weg bahnen, um zu erfahren, was Urwald ist. Von Außen und aus einiger
Entfernung zeichnen ihn vor dem gewöhnlichen Hochwalde zahlreiche überragende
dürre Baumwipfel aus. Von seinem Innern ließe sich als charakteristische
Beschaffenheit sagen, daß die Bäume von jedem Alter und von jeglicher Art,
wie sie der Beschaffenheit des Bodens, seiner Zusammensetzung, Höhe, geo-
graphischen Lage entspricht, gemischt durcheinander stehen, und daß das ab-
gestorbene Holz da, wo es wuchs, verfault. Handelt es sich um eine An-
schanung, so muß man sich zunächst eine grenzenlose Unordnung vorstellen,
ein Chaos von Felsblöcken, Gestrüppe, kolossalen Bäumen, dürrem Reisig von
allem Alter. Die Bodenunterlage aus Gneiß= oder Granittrümmern gebildet,
entgeht, wenn diese nicht gewaltige Felsblöcke sind, vollständig den Blicken,
überwuchert von Moosdecken unter Jungholz oder mannshohen Farnkrautwäl-
dern von Polypodium alpestre und Asplenium Filix femina, allenthalben
bedeckt von ungeheueren Baumleichen, von Moder aller Art, angehäuften Re-
sten von Generationen über Generationen. Auf solchem Boden stehen wir
unter dem hochgewölbten Dache der Baumwipfel, das von ungeheueren Stäm-
men getragen wird, die schnurgerade emporstrebend unserem Auge entschwin-
den, die einen und andern zum Umsturze sich neigend, manche bereits dürr
und so schon seit vielleicht einem Jahrhunderte sich erhaltend, bis das morsche
Gebäude zusammenbrechend sich in's Grab begibt, Tausende einer jüngeren
Generation zerschmetternd, Tausende in's Leben rufend, ihnen Licht und Nah-
rung ertheilend. Was in der Vorhand ist strebt empor und verdämmt die
schwächere Nachbarschaft, die geduldig in ein anderes Jahrhundert hinein war-
ten muß, bis ein ähnliches Ereigniß diesen oder einen anderen Nachbar aus
dem Wege und Lichte schafft. Da liegen sie dann über Granittrümmern
diese Riesenleiber, Stämme von 6 und 7 Fuß im stärksten Durchmesser, un-
übersteigliche, nur umgehbare Hindernisse für den Fuß des Besuchers, der
bald im Moder, bald in den von Moos versteckten Klüften zwischen den Fels-
trümmern bis übers Knie, ja nicht selten bis an den Leib versinkt, bald auf
verborgenen glatten Felsplatten ausgleitet oder in versteckte Quellen tritt.
Dann gilt es wieder durch Dickicht zwischen unwegsamen aufgethürmten Fels-
trümmern sich hindurchzuarbeiten. Die Richtung ist ohne Compaß schnell ver-
loren, ein ewiges Ausweichen und der beschränkte Gesichtskreis macht das
Einhalten jeder Richtung selbst in Gedanken unmöglich. Ja es ist ein unsäglich
schweres Stück Arbeit in einem solchen Waldlabyrinthe vorzudringen, wo man
nach stundenlanger Bemühung oft kaum weiter als einen Büchsenschuß gelangt ist.
„Das ist eine Skizze von dem Urzustande unserer Waldungen. — Der
Wald ist es, der dem bayerischen Waldgebirge seinen Namen gibt, und mit