Object: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

Josef Grunzel, Die Industrie. 399 
  
Dabei ist zu berücksichtigen, dass die amtliche Statistik zu den Selbständigen auch leitende 
Beamte, wie Direktoren, Administratoren zählt, die doch nicht selbst Unternehmer, sondern Ange- 
stellte von Unternehmungen sind; mit dieser Korrektur würde sich das Verhältnis noch krasser 
stellen. Die dargelegte Veränderung ist aber nicht die beklagenswerte Erscheinung, für die man sie 
im Anfang wohl hielt. Dem Handwerker des Mittelalters musste die Selbständigkeit das naturge- 
mässe Ziel des Ehrgeizes sein, weil er nur als Meister seine volle Tüchtigkeit entfalten konnte, heute 
ist sie aber mehr eine Illusion als ein Vorteil. Mit der Verschärfung der Konkurrenz geht die Macht 
vom Produzenten auf den Konsumenten über, und je kleiner der Unternehmer ist, desto drückender 
wird die Abhängigkeit. Der Arbeiter eines Grossbetriebes erfreut sich tatsächlich einer viel grösseren 
Unabhängigkeit als derselbständige Handwerker, er braucht auch kein Unternehmer-Risikozu tragen, 
das vollständig auf das Kapital überwälzt wird. Auch die Furcht vor der Zermalmung des wirt- 
schaftlich und politisch wichtigen Mittelstandes hat sich als ungerechtfertigt erwiesen. Der aus 
kleinen Unternehmern, Handwerkern, Händlern usw. bestehende alte Mittelstand wird durch einen 
neuen ersetzt, der nicht bloss aus den verschiedenen Kategorien von Beamten und Angestellten, 
sondern auch schon aus Arbeitern gebildet wird, da es bereits qualifizierte Arbeiter gibt, deren Be- 
züge denen eines ziemlich hoch gestellten Staatsbeamten nicht nachstehen. . 
” Auch die Angst vor den übermächtigen Industriekönigen, die man durch Anhäufung grosser 
Kapitalien in den Händen Einzelner entstehen sab, ist sichtlich im Verschwinden. Ein grosser 
glänzender Name ist in der Industrie weniger durch Geld als durch Tatkraft zu erreichen. Die alte 
Personalunion zwischen Arbeit und Kapital ist zerrissen worden, weil an die Stelle des Einzelbetriebs 
immer mehr der unpersönliche Gesellschaftsbetrieb tritt. Der erste Unternehmer lebt häufig nur noch 
in der Firma fort, die Unternehmerfunktion hat sich aber unterdessen auf eine immer grössere Zahl 
von häufig wechselnden und daher namenlosen Aktionären und Teilhabern verteilt. Die Kapitals- 
konzentration schreitet auch weiter unaufhaltsam vor, aber die Machtkonzentration des Ein- 
zelnen ist im Verschwinden. Auch im Reiche des Geldes vollzieht sich ein Demokratisierungsprozess. 
Die Aktiengesellschaft als erste Form der Kapitalsgesellschaft hat sich zwar in mancher Industrie 
nur langsam Bahn gebrochen, weil man nur die Nachteile der kustspieligeren Verwaltung und schwer- 
fälligeren Leitung sah. Allmählich wurden aber die Vorteile in immer höherem Grade eingeschätzt. 
Die Kapitalsbeschaffung ist eine ungleich leichtere und billigere, weil die Gesellschaft vom Wechsel 
der Mitglieder unabhängig und hinsichtlich ihrer Geschäftstätigrkeit einer Kontrolle der Öffent- 
lichkeit ausgesetzt ist. Das Leihkapital, das durch Ausgabe von Obligationen, durch Aufnahme von 
Hypothekenschulden und schwebenden Schulden gefunden wird, bietet hiebei den besonderen 
Vorteil, dass es über die eigene Verzinsung hinaus in dem Unternehmen werbend mitarbeitet und 
dadurch den Ertrag der Aktien vermehren bilft. Ein besonderer Nutzen wird durch die Agioge- 
winne erzielt, welche bei der Emission neuer Aktien zuweilen sogar 150 bis 200 % betragen und dem 
Reservefonds zugewiesen werden, denn auf diese Weise arbeitet ein Kapital mit, das überhaupt nicht 
verzinst zu werden braucht. 
Das Aktienwesen hat denn auch in Deutschland eine ausserordentliche Entwicklung er- 
fahren. Nach einer Veröffentlichung des Kaiserlichen Statistischen Amtes gab es in Deutschland im 
Jahre 1911 nach Ausscheidung der in Liquidation und im Konkurs befindlichen Gesellschaften 5340 
tätige Aktiengesellschaften. Nach einigen Ausscheidungen, wie der Kartelle, welche satzungsge- 
mäss eine Dividende ausschliessen, der Gesellschaften zu gemeinnützigen Zwecken usw. kommt die 
amtliche Statistik zu 4607 reinen Erwerbsgesellschaften, welche über ein eigenes Kapital in Aktien 
und Reserven von 16,1 Milliarden Mark verfügen und jährlich m hr als eine Milliarde an Dividenden 
verteilen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in der letzten Zeit neben die alte Gesellschaftsform 
eine neue getreten ist, die der Gesellschaften mit beschränkter Haftung, welche sich besonders für 
industrielle Unternehmungen kleineren Umfanges eismet. An solchen Gesellschaften bestanden 
Ende des Jahres 1911 bereits 22 179 mit einem Stammkapital von 4,2 Milliarden Mark. 
Der spezialisierte Grossbetrieb war das nächste Ziel der industriellen Entwicklung, weil er die 
äusserste Herabdrückung der Produktionskosten ermöglichte. Mit ilım wuchs aber eine doppelte 
Gefahr. Vor allem wurde der Betrieb im Falle einer Bedarfsänderung stärker in Mitleidenschaft
	        
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