Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenter Jahrgang. 1891. (32)

96 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 11.) 
11. Juni. (Abgeordnetenhaus.) Beratung des Antrages 
Rickert u. Gen. wegen Vorlegung des Materials über die verfüg- 
baren Getreidebestände und die Ernteaussichten. 
Ministerpräsident v. Caprivi: 
Ich habe im Namen der Staatsregierung den Wunsch auszusprechen: 
das hohe Haus wolle den hier vorliegenden Antrag ablehnen. Der Antrag 
geht dahin: die Königliche Staatsregierung möge das Material über die 
zur Zeit verfügbaren Getreidebestände und die diesjährigen Ernteaussichten 
dem Abgeordnetenhause mitteilen. 
Nach dem Verlauf der vorigen Sitzung war es wahrscheinlich, daß 
dieser oder ein ähnlicher Antrag kommen würde, und es ist mir weiter zweifel- 
los, daß die Ziele der Herren Antragsteller über den Wortlaut des Antrages 
hinausgehen: sie wollen nicht bloß das Material kennen lernen, sondern sie 
wollen an den Antrag eine weitergehende Diskussion knüpfen. 
Was nun diese weitergehende Diskussion angeht, so ist die Staats- 
regierung nicht in der Lage, darauf einzugehen, es sei denn, es handelt sich 
um die Berichtigung thatsächlicher Anführungen. Was die Staatsregierung 
zur Sache zu sagen hat, habe ich mir am 1. d. M. auszuführen die Ehre 
gegeben. Seitdem hat sich in den Anschauungen der Staatsregierung über 
die Sachlage nichts geändert. (Bravol! rechts.) Sie nimmt genau denselben 
Standpunkt ein, den sie am 1. d. M. einnahm, und diejenigen Nachrichten 
und Mitteilungen, die ihr inzwischen zugegangen sind, haben die Staats- 
regierung nur in dem Festhalten an demjenigen Standpunkt bestärkt, den 
darzulegen ich damals die Ehre gehabt habe. (Lebhaftes Bravo rechts.) 
Die Fassung des vorliegenden Antrages, wenn er eben nicht weiter- 
gehende Ziele hätte, könnte ja überraschen. Ich habe mir am 1. d. M. am 
Eingang meiner Rede wörtlich zu äußern erlaubt: 
All dieses Material würde einen ziffermäßigen Beweis für die Richtig- 
keit des Verfahrens der Staatsregierung beizubringen nicht ermöglichen. 
Diese Zahlen sind zum Teil ihrer Natur nach unsicher; sie beruhen auf 
Schätzungen. 
Wenn die Staatsregierung schon am 1. ausgesprochen hat, daß sie 
nicht in der Lage ist, einen ziffermäßigen Beweis beizubringen, so weiß ich 
nicht, was mit einem Zahlenmaterial, wie es der vorliegende Antrag fordert, 
erreicht werden soll. Es liegt ja in der Natur der Sache, daß, wie ich auch 
das vorige Mal auszusprechen mir die Ehre gegeben habe, all dies Material 
mehr oder weniger unsicher ist, auf Schätzungen beruht, und daß jeder, der 
ein Urteil sich bilden will, darauf angewiesen ist, aus einer Menge von 
Schätzungen einen Durchschnitt zu ziehen. 
Die Staatsregierung hat, abgesehen von der unausgesetzten Beobachtung 
dieser Verhältnisse, die in den verschiedenen Ressorts dauernd ausgeführt 
wird, schon Ende April die vorliegende Frage, ob ein Notstand im Lande 
da sei und ob es notwendig sei, zu Ausnahmemaßregeln zu greifen, zum 
Gegenstand eingehender Erörterungen gemacht. Die Staatsregierung kam 
damals zu dem Beschluß, daß sie die Sache noch nicht genug übersehen 
könnte, daß sie Recherchen anstellen wollte; sie beschloß aber weiter, diese 
Recherchen auf den Kreis königlicher Behörden zu beschränken, weil sie die 
Besorgnis hatte, daß wenn sie Privatpersonen, Korporationen des Handels, 
landwirtschaftliche Vereine 2c. gehört hätte, sie schon damals eine Agitation 
in das Land getragen haben würde, die zu nichts anderem hätte führen 
können, als zu einer Haussebewegung (sehr richtig! rechts), die also dasjenige
	        
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