570 Nebersicht der politischen Enlwichlung des Jahres 1879.
währten Grundsätzen des früheren Zollvereins“ verdeckt oder be-
gründet. Denn der Zollverein hat thatsächlich von Anfang an und
unter der Leitung Preußens, das durch denselben freilich noch andere
Zwecke verfolgte, wirthschaftlich entschieden viel mehr im Sinne des
wohlverstandenen Freihandelsprincipes gewirkt, als im Sinne des
Schutzzollsystems, das nun auf einmal wieder auf den Schemel er-
hoben werden sollte. Indeß die Thronrede entsprach in der Haupt-
sache genau der Situation. Der Reichskanzler hatte die Umkehr von dem
bisher befolgten Princip zu demjenigen des Schutzzollsystems zu seinem
Programme gemacht und die Frage mußte entschieden werden.
Nur mochte es zweifelhaft sein, ob die Moajorität des
Reichstags ihm darin folgen, seinen Forderungen entsprechen
werde. Die bisherige Majorität desselben jedenfalls nicht. Seit
der Gründung des Reiches war die national-liberale Partei aus
jeder Neuwahl als die stärkste Fraction des Reichstags hervor-
gegangen und war ihrerseits im Wesentlichen jederzeit dem Reichs-
kanzler entschieden zur Seite gestanden; in ihr hatte er seine haupt-
sächlichste Stütze gesucht und gefunden. Aber sie bildete immerhin
für sich allein lange nicht die Mehrheit des Reichstags, sie war und
konnte lediglich der feste Kern einer solchen sein, die nur durch den
jeweiligen Anschluß anderer Fractionen ergielt werden mochte. Daß
sich eine fest und stetig zusammenhängende Mehrheitspartei im Reichs-
tage bilden werde, dafür war vorerst und wohl auf ziemlich lange
hinaus ganz und gar keine Aussicht, so sehr es auch begreiflicher
Weise der Reichskanzler gewünscht hätte oder wenigstens zu wünschen
schien. Wie die Dinge lagen, mußte er schon zufrieden sein, daß sich der
principiellen Opposition der Ultramontanen, Polen, Welfen und Sozial-
demokraten mehr und mehr alle besonnen liberalen, nicht radicalen, und
alle wirklich conservativen, nicht geradezu reactionären Elemente um
bie starke nationalliberale Partei herum gruppirten und eine Mehr-
heit bildeten, mit welcher der Reichskanzler regieren konnte, freilich
ohne auf diese Art eine Mehrheit vor sich zu haben, die sich ihm
unbedingt zur Verfügung gestellt hätte. Er mußte vielmehr noth-
gedrungen über jede Maßregel, die er durchsetzen wollte, vorerst mit
den Nationalliberalen und diese wieder mit anderen Fractionen
unterhandeln und diese Unterhandlungen schlossen in der Regel mit
einem Compromiß, mit dem alle Theile zufrieden sein mußten.
Ganz befriedigend war dieses System der Compromisse indeß
für Riemanden, am wenigsten für den Reichskanzler und dieser hatte