Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 24.) 129
dem Antrage ernste Bedenken erhoben, deren erstes, wesentliches die Bezeich-
nung der Eisenbahnen als vom Staate monopolisirke öffentliche Verkehrswege
betrifft und die hieran geknüpfte Folgerung angeht, daß die Lage der Eisen-
bahnen genau mit der staatsrechtlichen Stellung der übrigen öffentlichen Ver-
kehrsanstalten zusammenfalle. Der innersten Natur der Eisenbahn-Unter-
nehmungen widerspreche es, dieselben der Freiheit der Bestimmung der Fracht-
sätze zu berauben; es widerstrebe aber auch die starre, schematische Fest-
stellung der Tarifsäße den Interessen des Gemeinwohls wegen der damit ver-
bundenen Verkümmerungen der wirthschaftlichen Leistungen der Nation. Es
erscheine auch nicht möglich, dem Gedanken der Gleichberechtigung der Reichs-
angehörigen in allen Wirthschaftsgebieten die 5 ge zu geben, daß darunter
nicht die Berechtigung zum freien Betriebe d lrmsssbn sondern
das Recht jedes Reichsangehörigen verstenden wirde die Beförderung seiner
Güter zu den von der Regierung vorgeschriebenen Pre en zu verlangen; es
sei denn, daß man es für angänglich hielte, dem Fuhrmanne und dem
Schiffer die Einhaltung der gleichen Preise vorzuschreiben. Darum sei die
Vereinfachung der Tarife ohne Nachtheil für das Gemeinwohl nur innerhalb
Vewisser Grenzen möglich, ferner die feindliche Haltung gegen Ausnahme-
und Differentialtarife nicht gerechtfertig. ni der billigeren Beförderung
von Kohlen, Erzen und anderen Rohprodukten beruhe die Möglichkeit der
Entwicklung einer dem Anslande wenbkregn inn-R und die Differential-
tarife seien nicht zu entbehren, wenn nicht, unter entschiedener Benachthei-
ligung der heimischen Interessen auf den Transikverkehr durch D Deutsch land
zu Gunsten ausländischer Verkehrswege, auf die angemessene Betheiligung
der deutschen Seehäfen an der Aus= und Einfuhr Deutschlands und auf die
Vortheile der Eisenbahnbeförderung gegenüber der Beförderung auf Wasser-
wegen verzichtet werden solle. Endlich wird es für in hohem Maße be-
denklich erachtet, gesetzliche Ei inrichtungen zu treffen, wonach gleich hohe Ein-
heitssätze für alle Bahnen Deutschlands von der obersten Reichsstelle oder
der Gesetzgebung unter Wegf all von Ausnahme- und Differentialtarifen an-
geordnet werden.
Inzwischen verfolgt die preußische Regierung neben der kanz-
lerischen Agitation für gesetzliche Regelung der Gütertarife unentwegt
ihren Plan eines Ankaufs der für den Verkehr wichtigsten Privat-
bahnen, wodurch sie, auch wenn das Reichseisenbahnproject nicht
sollte verwirklicht werden können, doch den obersten Entscheid und
die virtuelle Leitung des gesammten deutschen Eisenbahnwesens in
ihre vande bekommen muß.
Am 15. d. M. wurde die eu Vahun Berlin- Wehlar ccrifnet und zwar
zunächst für den Güterverkehr; Mai soll dan h der Personen=
verkehr beginnen. Gleichzeitig auch die lehten ch der neuen
Moselbahn dem Verkehr übergeben, so daß alsdann eine ununterbrochene
Staatsbahnlinie von der rutsischen Grenze bis zur französischen bei Meßz
reicht. Die neue Bahn wird voraussichtlich einen tiefgreifenden Einfluß auf
die Verhältnisse der großen Privatbahnen ansüben, die bisher die Verbindung
zwischen dem Osten und Westen der Monarchie vinsttelten, und muhUß dazu
beitragen, den Uebergang der letzteren in den Besitz des Staats zu beschleu-
nigen. In dieser Voraussicht hat der Handelsminister bei den jüngsten
Eisenbahn-Debatten im Abgeordnetenhaus den Bau der Berlin peshlaner
Bahn als den entscheidenden und unwiderruflichen Shhrie zur Durchführung
des Staatsbahnsystems in Preußen bezeichnet. Angesichts der großen Wich-
Schultheczr GSuror. Geschichtslalender. XX. B. 9