Beschlußfassung.
346 PauL LaBanp: Staatsrecht.
vom 31. Januar 1850, zum Teil wörtlich entnommen. Jedoch geht er im Gegen-
satz zum preußischen Abgeordnetenhause aus allgemeinen und direkten Wahlen
mit geheimer Abstimmung hervor. (RV. Art. 20 Abs. 1.) Die näheren Anord-
nungen enthält das Wahlgesetz vom 31. Mai 1869. Wahlberechtigt ist jeder
Deutsche, welcher das 25. Lebensjahr zurückgelegt hat; das Stimmrecht ist für
alle Wähler gleich ohne Rücksicht auf Personenstand, Beruf, direkte Steuer
oder Bildung. Frauen sind vom Wahlrecht ausgeschlossen. Personen des
Soldatenstandes können es nicht ausüben, solange sie sich bei der Fahne befinden.
Wählbar ist jeder Wahlberechtigte, welcher einem zum Bunde gehörigen
Staate mindestens seit einem Jahre angehört hat. Die Gesamtzahl der Reichs-
tagsabgeordneten beträgt 397. Jeder Abgeordnete wird in einem besonderen
Wahlkreise gewählt, welcher gesetzlich abgegrenzt ist und nur durch Reichsgesetz
abgeändert werden kann. Die Bestimmung des Wahlgesetzes $ 5, daß auf je
100000 Seelen der Bevölkerungszahl ein Abgeordneter gewählt werden soll,
trifft längst nicht mehr zu. Die Wahlen sind allgemeine, d. h. sie werden, aus-
genommen wenn Ersatzwahlen für einzelne Abgeordnete notwendig werden,
im ganzen Bundesgebiete an demselben Tage vorgenommen. Die Wahl erfolgt
durch geheime Abstimmung mittelst Stimmzetteln; das Wahlgeheimnis ist
durch zahlreiche Vorschriften sorgsam geschützt; ebenso die freie Ausübung
des Wahlrechts. Beamte bedürfen keines Urlaubs zum Eintritt in den Reichstag.
Die Wahlprüfung erfolgt durch den Reichstag selbst ohne Mitwirkung der
Regierung. Die Legislaturperiode, welche die Verfassung auf drei Jahre be-
stimmt hatte, ist auf fünf Jahre verlängert worden (Ges. v. Io. März 1888);
sie beginnt mit dem Tage der allgemeinen Wahlen. Dem Kaiser steht es zu,
den Reichstag zu berufen, zu eröffnen, zu vertagen und zu schließen und unter
Zustimmung des Bundesrats vor Ablauf der Legislaturperiode aufzulösen. Die
Verhandlungen des Reichstags sind öffentlich. (RV. Art. 22 Abs. ı.) Der
Ausschluß der Öffentlichkeit ist verfassungswidrig. Die Beschlußfassung erfolgt
nach absoluter Stimmenmehrheit; im Falle der Stimmengleichheit ist der Antrag
abgelehnt. Zur Beschlußfähigkeit ist die Anwesenheit der Hälfte der gesetz-
lichen Anzahl der Mitglieder, also mindestens 199, erforderlich. Diese Ver-
fassungsvorschrift wird aber tatsächlich sehr oft verletzt; die Beschlußunfähig-
keit wird, so offensichtlich sie auch ist, nur festgestellt, wenn ein Mitglied des
Reichstags es verlangt oder eine namentliche Abstimmung stattfindet.
Der Reichstag wählt seinen Präsidenten, seine Vizepräsidenten und
Schriftführer und hat das Recht, seine Geschäftsordnung selbständig festzu-
setzen. Die Abgeordneten genießen vollständige Immunität; sie dürfen wegen
ihrer Abstimmungen und wegen der in Ausübung ihres Berufs getanen Äuße-
rungen außerhalb der Versammlung nicht zur Verantwortung gezogen werden.
Die geschäftsordnungsmäßigen Mittel zur Aufrechterhaltung der Disziplin in
der Versammlung sind unzulänglich. Die Mitglieder des Reichstags erhielten
nach der RV. keine Diäten; der Reichstag hat aber wiederholt die Gewährung
von Diäten verlangt und diesem Verlangen ist unter Aufhebung des Art. 32
der RV. durch das Reichsgesetz vom 21. Mai 1906 willfahrt worden.