Erankreich. (Oct. 20.) 419
einer sehr radicalen Rede zu Gunsten einer allgemeinen Amnestie
der Communards.
20.—31. Oct. Sozialistischer Arbeiter-Congreß in Marseilles.
Ueber der Estrade, auf welcher der Vorstand an mit rothem Sammet
bedeckten Tischen sibt, prangt eine Büste der Marianne (rothen Repnblik)
mit phrygischer Mühe und rother Schärpe; an den Wänden liest man fol-
gende Inschriften: „Keine Rechte ohne Pflichten, keine Pflichten ohne Rechte“,
„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.“ „Der Boden dem Bauer, das Hand-
werkzeug dem Arbeiter." „Die Arbeit für alle; Emancipation der Arbei-
tenden durch die Arbeitenden selbst.“ „Wissenschaft, Friede, Gerechtigkeit,
Einigkeit.“ 500 Personen nehmen an der Eröffnungssitzung Theil, worunter
126 Delegirte und Delegirtinnen. Das Präsidium führt der Bürger Durand,
Delegirter der Bäcker von Marseille; mit ihm bilden die Bürger Finance,
Bonne und Hervé und die Bürgerinnen Grave, Hubertine Canclere und
Louise Mennier den Vorstand. Nachdem der Bürger Gautier über die Ver-
handlungen des letzten in Lyon abgehaltenen Congresses berichtet, wird auf
Antrag des Bürgers Lombard beschlossen, daß der gegenwärtige Congreß sich
„socialistischer Congreß von Frankreich" nenne. Dann löst sich die Ver-
sammlung in Ausschüsse auf.
In der letzten Situng beschäftigt sich der Congreß mit der Redac-
tion und Annahme der Conclusionen. Berichterstatterin Huberline
Canclerc beantragt anläßlich der Frauenfrage, daß die bürgerliche Erzie-
hung der Frauen mehr berücksichtigt werde; daß ihnen der Zutritt in alle
Männerversammlungen, in die Socialisten= und Wahlcomités und daselbst
berathende Stimme gestattet werde; daß den Frauen dieselben politischen
Rechte, deren die Männer sich erfreuen, eingeräumt werden; ferner beantragt
sie die Abschaffung der Klöster, der Gefängnisse, daß die Frau selbständig
erklärt werde und als Mutter allein über die Kinder zu verfügen habe.
Nach einer langen Debatte geht die Versammlung fast einstimmig auf diese
Vorschläge ein. Hinsichtlich der zweiten Frage betr. die Handwerker-
Syndicatskammern beantragt Berichterstatter Danthier von Paris, daß
die Syndicatskammern über die mit den Lehrlingen geschlossenen Verträge
u wachen haben, zur Vermeidung von Arbeitseinstellungen als Schiedsrichter
in streitigen Fällen angerufen werden; die Gründung einer Unterstühungs-
kasse für arbeitslose Kranke und Greise; endlich die Abschaffung aller be-
engenden und bedrückenden Gesege. Angenommen, sowie ebenfalls die Vor-
schläge des Berichterstatters über den dritten Punkt, welcher die Hand-
werker= Syndicatskammern allen anderen Vereinen gleichstellen will, da-
mit dem socialen Problem eine schnelle Lösung werde. Bürger Mier
bringt gelegentlich des vierten Punktes, Schulunterricht und Erler-
nung eines Handwerks, folgende Conclusionen zur Berathung: Ein-
führung des religionslosen, unentgeltlichen und obligatorischen Unterrichts,
Bestreitung des Schulmaterials durch den Staat, Grundung von Gewerbe-
schulen in allen Gemeinden, die über 3000 Einwohner zählen. Einstimmig
angenommen. Die fünfte Frage betrifft die Arbeitslöhne. Bericht-
erstatter Bernard beantragt die Ernennung von Ausschüssen, die aus Mei-
stern und Gesellen bestehen, und die Beißeymtung der Arbeitseinstellungen
als die beste Waffe, dem Capital die Spitze zu bieten; er will die Beseiti-
Lus der Mittelspersonen zwischen Bestellern und Arbeitern. Angenommen.
Bürger Lombard von Marseille hat über den sechsten Punkt: Vertretung
des Proletariats in den gewählten Körperschaften Bericht zu er-
statten. Er beantragt die Trennung von Bourgeoisie und Proletariat, die
Bildung einer großen Arbeiterpartei, die directe Vertretung des Proletariats
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