Das deuische Reich und seine einzelnen Glieder. (April 80 — Mai 2.) 131
Reichstags bleibt aber höchst zweifelhaft und die Annahme der Licenzsteuer
noch zweifelhafter.
Der Entwurf setzt den neuen Zolltarif noch nicht provisorisch in Kraft,
ermöglicht es aber, binnen 24 Stunden denfelben im Ganzen oder im Ein-
elnen provisorisch in Kraft treten zu lassen. Der Entwurf begründet insofern
ine Abänderung der Verfassung und einen Eingriff in die Prärogative des
Reichstages, als er für Bersthungen über provisorische Tarifmaßnahmen Be-
timmungen über den an im Reichstage trifft. Nach Art. 27 der
Reichsverfassung aber hat' der Reichstag seinen Geschäftsgang zu regeln.
Würden durch Geseß statt durch einfachen Reichstagsbeschluß solche Bestim-
mungen getroffen, so würden auch nur durch Gesetz, also nur unter Zustim-
mung des Bundeerath, solche Bestimmungen wieder abgeändert werden kön-
nen, während jetzt die Abänderung der Geschäftsordnung einzig und allein
vom Willen des Reichstages abhängt. Nun gestattet aber auch schen. bie
geltende Geschäftsordnung die kürzeste Behandlung jeder Vorlage. Bei M
bruch des französischen Krieges haben Gesetzentwürfe an einem und W
Tage alle drei Lesungen im Neichstage passirt. Nur der Einspruch von fünf-
zehn Mitgliedern vermag zu erzwingen, daß ein Gesetz fünf Tage für sein
Durchbringen erfordert. Zweitens enthält der Gesetzentwurf einen Eingriff
in die Prärogative der Krone, indem er es zum ersten Male ermöglicht, daß
ohne unkerschlift des Kaisers Nenderungen, wenn auch nur provisorisch, in
der Steuerpflicht der Bürger getroffen werden können. Die Einholung der
kaiserlichen Unterschrift hat aber noch niemals bei Staatsakten eine Verzöge-
rung im Geschäftsgang bewirkt, sie wird sich auch in folchen Fällen ebenso
rasch besorgen lassen, wie der Abdruck im Neichsgese blatt, welchen ja der
boe entwurf selbst für erforderlich erachtet. Das b ihschnel le heie
chlagbaums an den Grenzen vermag allerdings der Speculation auf
Fuurschen sofort eine Schranke zu seßzen, schneidet aber 1 so sehr in
eschäfte ein, die ganz gewöhnlicher und regelmäßiger Nakur sind.
30. April. (Deutsches Reich.) Der Magistrat von Berlin
entschließt sich noch in lehter Stunde, auf dringendes Ersuchen der
Städte Königsberg, Danzig, Thorn, Stettin und Kiel, welche officiell
den Magistrat von Berlin darum angingen, und auf Anfragen ver-
schiedener anderer Städte und Personen, einen deutschen Städtetag
gegen die beabsichtigten Schutzzölle, besonders auf Getreide, Vieh,
Holz, Kohlen 2c. und andere unentbehrliche Lebensmittel nach Berlin
zu berufen.
2. Mai. (Deutsches Reich.) Bundesrath: der Reichskanzler
legt demselben einen Gefetz-Entwurf vor, der die Matricularbeiträge
für das l. Etatsjahr auf 90,371,380 ¾ fixirt.
2. Mai. (Deutsches Reich.) Neichstag: das ultramontane
Centrum schließt seine Berathungen über die wirthschaftlichen Vor-
lagen, die neuerdings dahin gehen, die Schutzzölle zu bewilligen,
sich bez. der Finangzölle dagegen vorerst freie Hand zu behalten.
Es handelt sich eben bei dieser F. Frage nicht allein um volkswirthschaft-
liche, sondern auch um politische Motive. Die Annahme der Finanzzölle in
der proponirten Höhe würde die weitere Erhebung der Ntriular rbeiträge