62 1. Abschnitt. Von Rußland zu Großbritannien. 1887—1894.
dung des neuen Oeutschen Reiches der deutsche Seehandel der Hansa-
städte sich als unter englischem Schutze stehend betrachtete und betrachten
mußte. Man war gezwungen, „mit dem Hute in der Hand“, wie Bis-
marck während der Dampfersubventionsdebatten sagte, „bei Fremden
bettelnd sich durchzuschlagen“. Anders konnte es auch mit jener deutsch-
englischen Freundschaft nach 1890 nicht werden. Das war ein Verhältnis,
dem die Grundlage der Gleichberechtigung fehlte: Macht auf beiden
Seiten. Die Seemacht befand sich nur auf der englischen Seite. In-
folgedessen verlangte die britische Politik vom Oeutschen Reiche Ge-
folgschaft überall da, wo die deutsche Macht nicht binreichte, wo die Groß-
britanniens aber herrschte.
Nach der Rede des Kaisers vom 18. Januar 1896 schrieben die „Times“:
„Die Proklamierung eines anderen Oeutschen Reiches der Zukunft muß
unbedingt uns einige ernste und verfängliche Fragen nahelegen: In
welchen bisher herrenlosen Gebieten soll es zustande gebracht, oder wie
und wem soll es durch Eroberung entrissen werden? Von wem soll es be-
völkert werden?“ Also Unverständnis und Anspielung auf die Macht-
losigkeit des Deutschen Reiches zur See. Man wußte in England nur
zu gut, daß eine kraftvolle überseeische Politik sich ohne eine starke Flotte
nicht treiben läßt. In Deutschland aber sagte Herr Eugen Richter: es
gäbe zwei Klassen von Flottenenthusiasten: nämlich ehrliche Kolonial-
schwärmer und Intriganten! — So gingen der Argwohn des Auslandes
und die Verständnislosigkeit der öffentlichen Meinung im Deutschen
Reiche Hand in Hand.
Als Kaiser Wilhelm zur Regierung kam, stand, dem Tonnengehalte
nach, die deutsche Flotte an fünfter Stelle unter den Kriegsflotten der
Welt. Weitaus an erster stand die britische, ungefähr zwei Orittel ihres
Tonnengehaltes zählte die französische Flotte, auf zwei Fünftel der fran-
zösischen bezifferten sich die Tonnengehalte der italienischen und der
russischen Flotte. Dann erst kam die deutsche Flotte. Qualitativ schnitt
die deutsche Flotte noch ungünstiger ab.
Das Zahr 1888 bildete gleichwohl für die Flotte Großbritanniens
einen Zeitpunkt des Tiefstandes. Im selben Zahre setzte eine vom der-
zeitigen Kapitän zur See und Parlamentemitglied, Lord Beresford,
geführte Agitation ein, welche auf die dringende Notwendigkeit hinwies,
die Flotte stark und schnell zu vermehren. Eine für damalige Zeit bei-
spiellos umfangreiche Flottenvorlage wurde eingebracht, nämlich die
Fertigstellung der folgenden Schiffe innerhalb eines Zeitraumes von
vier Zahren: 8 Schlachtschiffe erster, 2 Schlachtschiffe zweiter Klasse,
9 Kreuzer erster Klasse, 33 kleinere Kreuzer und 18 Torpedoboote. Der
Erste Lord der Admiralität, Lord Hamilton, begründete die Vorlage da-