Potedam — Agadir — Tripolis. 1909—1912. 389
sei. Bon erheblicher Bedeutung waren dagegen zwei russische Besuche zu
London. Oer eine wurde von einer großen Anzahl Dumaabgeordneter
ausgeführt, der zweite vom Zaren, nachdem dieser vorher in Cherbourg
den französischen Präsidenten begrüßt hatte. König Eduard empfing auch
die Dumaabgeordneten und stärkte damit das Ansehen der Duma. Die
beiden Monarchen wünschten einander im Schatten einer großen englischen
Flottenparade ferneres Gedeihen der herzlichen Beziehungen.
Oer Deutsche Kaiser nahm an den österreichischen Manövern teil, und
der Erzherzog-Thronfolger mit seiner Gemahlin machte einen Besuch in
Berlin. Kurz, das Jahr 1909 bezeichnete eine beinahe allgemeine Be-
tonung der bestehenden politischen Beziehungen, Freundschaften und
Vereinbarungen. Das deutsch-russische Verhältnis schien sich zu bessern.
Um so deutlicher betonte ein Besuch des Zaren in Italien zu Racconigi
im Oktober 1909 die tiefe russisch-österreichische Berstimmung. Der Zar
und Viktor Emanuel waren von ihren Ministern begleitet, eine Tatsache,
welche die Zusammenkunft von vornherein zu einem bedeutenderen Er-
eignisse stempelte. Gewollt auffallend bei der Reise selbst war, daß der Zar
einen ungeheuren Umweg machte, um unterwege kein österreichisches Ge-
biet betreten zu müssen. Man hatte russischerseits, wenn auch nur scheinbar,
mit Deutschland das Kriegsbeil begraben. Mit Osterreich-Ungarn lag die
Sache anders, um so mehr, als nach Schluß der Bosnischen Krisis eine bittere
öffentliche Auseinandersetzung der russischen und der österreichisch-ungari-
schen Diplomatie, im Grunde zwischen Fswolski und Aehrenthal, statt-
gefunden hatte. Der Zar und der König von Ztalien und ihre Minister
haben sich in Racconigi besonders mit südöstlichen Fragen beschäftigt und ihre
völlige Ubereinstimmung über die Balkanangelegenheit feststellen können.
Als möglich erscheint, daß der Bundesgenosse Deutschlands und Österreich-
Ungarns damals schon in das Bertrauen Rußlands und damit des Dreiver---
bandes gezogen wurde, daß man Ztalien den Inhalt der in Reval verein-
barten Beschlüsse mitteilte und für den Fall eines europäischen Krieges bei
entsprechendem italienischen Verhalten Beute in Aussicht stellte. Außer--
dem wurde man sich in Racconigi darüber einig, daß gegen eine Besetzung
von Tripolis durch Italien auch russischerseits nichts einzuwenden sei. Der
in diesem Falle zu erwartende Krieg mit der Türkei sollte, wenn möglich
dazu benutzt werden, um die Türkei auch auf dem europäischen Festlande
zu schwächen. Daß ZItalien bei dieser Gelegenheit versuchen werde, sich
in Albanien festzusetzen, dürfte ebenfalls in Racconigi besprochen worden
sein. Genug, diese Zusammenkunft ist ein wichtiges Ereignis von poli-
tischer Bedeutung gewesen und hat die Knüpfung eines neuen Bandes zwi-
schen Italien und dem Dreiverbande bedeutet. Auf der anderen Seite war
die unter solchen Umständen ausgeführte Reise des Zaren um österrei-