Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

392 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914. 
  
Die Potsdamer Unterredungen hätten „da und dort scheinbare Mißver- 
ständnisse beseitigt und das alte vertrauensvolle Verhältnis zwischen ung 
und Rußland bestätigt und bekräftigt“. Diese Äußerungen erregten in 
Europa größtes Aufsehen, um so mehr, als das russische Regierungsorgan 
„Rossija“ erklärte: nicht alles, was im Potsdam vereinbart worden sei, habe 
Ausdruck in dem Abkommen gefunden. Nachdem die erste Uberraschung und 
Erregung sich gelegt hatte und nach beftigen Angriffen in der russischen, 
britischen und französischen Presse auf die Politik Ssasonows wurde von 
russischer Seite die allgemeinpolitische Bedeutung der Potsdamer Ver- 
einbarungen als immer geringer dargestellt und hervorgehoben, daß die 
russische Regierung nach wie vor ihren Bündnissen und Freundschaften 
treu bliebe. In Deutschland und auch in der englischen Presse war aus- 
gesprochen worden, daß zwischen dem Deutschen Reiche und Rußland 
anscheinend ein Abkommen geschlossen worden sei wie der alte russische 
Rückversicherungsvertrag Bismarcks. Wäre diese Auffassung zutreffend 
gewesen, so würde in der Tat das europäische Mächtespstem eine völlige 
innere AÄAnderung erfahren haben und die Erregung in Frankreich, in Eng- 
land und in Rußland selbst wäre begreiflich genug gewesen. Tatsächlich 
beruhigte sich diese Erregung aber bald, und die französischen Zeitungen 
wußten zu erzählen, daß der im diplomatischen Umgange noch nicht sehr 
erfahrene Ssasonow sich durch das in unauffälliger Form gemachte deutsche 
Angebot eines solchen Rückversicherungsvertrages in Potsdam zunächst 
habe übertölpeln lassen. Nac seiner Rückkehr nach Petersburg habe die 
russische Regierung dann die hinterlistige deutsche Absicht erkannt, die Sache 
als eine harmlose Redewendung behandelt und auf das unschädliche 
Gleis allgemeiner Freundschaftlichkeitsversicherungen abgeschoben. In 
Deutschland mochte man an eine solche Deutung nicht glauben und hoffte 
noch längere Zeit nachher auf amtliche Beröffentlichung eines tatsächlichen 
großen Ergebnisses oder aber auf den Beweis vom allgemeinen Werte des 
Potödamer Abkommens durch politische Tatsachen. Weder das eine noch 
das andere erfolgte. In der Tat ist die angedeutete französische Auffassung 
der Wahrheit ziemlich nahegekommen, ohne sich allerdings mit ihr zu decken. 
Die Staatemänner haben sich in Potsdam über die gegenseitigen Be- 
ziehungen der beiden Mächte unterhalten, sogenannte Mißverständnisse 
aufgeklärt, und dann ist anscheinend von deutscher Seite der Vorschlag an 
Ssasonow gemacht worden, man möge sich gegenseitig darüber einigen: 
„daß beide Regierungen sich in keine Kombination einlassen dürften, 
die eine aggressive Spitze gegen den anderen Teil haben könnte“. Ssasonow 
hat sich damit einverstanden erklärt. Als aber nachber die deutsche Re- 
gierung bzw. ihr Petersburger Botschafter der russischen Regierung nabe- 
legte, neben den Abmachungen über Persien usw. auch diese allgemein-
	        
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