Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Nach zwei Fronten. 5 
  
gegen Deutschland wuchs. Emsige panflawistische, polnische und fran- 
zösische Einflüsse bearbeiteten den Zaren und seine Umgebung mit wach- 
sendem Erfolge. Sogar ein in Brüssel erscheinendes Organ des Ministers 
v. Giers sprach offen von der „Aufrechterhaltung des Friedens und des 
europäischen Gleichgewichtes durch ein russisch-französisches Bündnis“. 
Oie Loyalität der Politik Bismarcks in der bulgarischen Krisis wurde 
in Rußland nicht anerkannt, weil der Oeutsche Kanzler die Orientziele 
der Politik Rußlands nicht restlos, nämlich auf Kosten Osterreich-Ungarne, 
fördern wollte noch konnte. Auch die Aussprache zwischen dem Zaren 
und Bismarck im Winter 1887 zu Berlin änderte wenig an der Kühle 
der Beziehungen. Die „Treulosigkeit des Deutschen Kanzlers auf dem 
Berliner Kongresse“ bildete eine unerschöpfliche Quelle der Erbitterung 
und Hetzerei in Rußland. Die Gefährlichkeit der Spannung wurde eine 
derartige, daß Bismarck Anfang des Zahres 1888 den deutsch-öster- 
reichischen Bündnisvertrag veröffentlichte. Zugleich vertrat er die Mili- 
tärvorlage. Die große Rede des Kanzlers brachte das neue europäische 
Motir: das des Zweifrontenkrieges. Heute sind wir seit länger als einem 
Bimerteljahrbundert an den Gedanken des Zweifrontenkrieges gewöhnt. 
Oamals hatte wohl der Generalstab diesen, wie alle denkbaren Möglich- 
keiten in Betracht gezogen, auch der Politik war er nicht fremd gewesen. 
Die Hervorhebung des Zweifrontenkrieges als greifbare Möglichkeit, als 
„Gefahr“ für Deutschland aber leitete eine neue Epoche ein. Die neue 
Lage bezeichnete den totalen Umschwung der europäischen Verhältnisse, 
einen Umschwung, der sich allmählich durchgesetzt hatte und an die 
Oberfläche gekommen war, wie ein Strom, der aus unzähligen unsichtbaren 
kleinen Quellen gebildet, plötzlich als große unzerstörbare Tatsache vor 
aller Augen liegt. 
Freilich waren auch da, in „#de#aler Konkurrenz“, zwei Gebiete zu 
unterscheiden: ein direkt gegen Deutschland sich richtendes Rußland, und 
eine direkt durch Österreich-Ungarn das Deutsche Reich zur Teilnahme 
am Kriege zwingende russische Politik. Das „Tertium comparationis“ 
war der Orient, welchem Bismarck ein unmittelbares, deutsches Interesse 
nicht entgegenbrachte, aber ein mittelbares, weil mit den Balkan- und 
Orientfragen Lebensfragen Österreich-Ungarns verknüpft waren. Beiden 
Eventualitäten hatte das deutsch-österreichische Bündnis Rechnung ge- 
tragen. Als Bismarck dieses veröffentlichte, verfolgte er zunächst den Zweck, 
Rußland zu zeigen, daß ÖOsterreich eintretendenfalls nicht allein stehen 
werde. Es bedeutete also keine Drohung, sondern im Gegenteil eine poli- 
tische Maßnahme, um die kriegerische Stimmung in Rußland zu dämpfen 
und den Krieg zu verhindern. Die Maßnahme erwiee sich als wirksam. 
Dazu muß aber bemerkt werden, daß die russische Regierung und der Zar
	        
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