Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Oer letzte Abt. 443 
  
dauernden BVereinbarung zu gelangen und den Albanern einen erbeblichen 
Grad von Selbständigkeit zu geben. Auch der österreichisch - ungarische 
Minister des Auswärtigen, Graf Berchtold, der Nachfolger des verstorbenen 
Grafen Aehrenthal, riet der Pforte hinsichtlich Albaniens zur Dezentrali- 
sierung, und es scheint in der Tat, daß eine solche halb unabhängige Stellung 
Albaniens innerhalb des damaligen Türkischen Reiches erwogen worden ist. 
Damit würde aber auch das damalige türkische Mazedonien, welchem die 
Albaner stets zustrebten, unter albanische Herrschaft geraten sein. Darüber 
gab es keinen Zweifel. 
Mazedonien bildete gewissermaßen den Kristallisationspunkt der ge- 
fährlichen Balkanfragen überhaupt. Hier wütete seit Jahrzehnten das 
Treiben der sog. Komitatschis serbischer und bulgarischer Provenienz 
Hier brachen die albanischen Banden ein, und hier versuchten die türkischen 
Behörden und schwachen Truppenkontingente vergeblich Ruhe und Ord- 
nung zu schaffen, übten dabei vielfach auch ein Regiment der Willkür und 
Unduldsamkeit. In Mazedonien setzte die mit unbeschränkten Geldsummen 
arbeitende Propaganda des englischen „Balkankomitees“ ein, um der 
Kultur, Zivilisation und Freiheit der Menschheit willen den Bandenkrieg 
zu schüren und dann die Türkei bitter anzuklagen, daß sie noch immer nicht 
die nötigen Reformen in Mazedonien einführe. Daß die Notwendigkeit 
von Reformen vorlag, war nicht zu bestreiten, ebensowenig aber, daß die 
britischen und russischen Balkanumtriebe es der schwer um ihr staatliches 
Dasein kämpfenden Türkei planmäßig unmöglich machten, schnell solche 
Reformen wirksam einzuführen. Schwere Aufstände in Arabien und die 
üblichen Unruhen in Armenien kamen hinzu. 
Auf das mazedonische Gebiet waren die Expansionsbestrebungen 
Serbiens wie Bulgarieno gerichtet. Fe mehr unterwühlt das Gebäude 
des Türkischen Reiches erschien, desto lebendiger wurden die Hoffnungen 
Serbiens wie Bulgariens, der Augenblick zum Handeln stehe bevor. Für 
Bulgarien tauchte, abgesehen von Ostmazedonien, auch Konstantinopel als 
altes Ziel auf, und Serbien, das sich 1909 nur unter äußerstem Drucke ge- 
fügt hatte, strebte nach dem Adriatischen Meere. Der Weg dahin mußte 
durch Albanien hindurch und nach einem albanischen Hafen führen. Oie 
Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn hatte 
einen anderen Weg Serbiens nach der Adriatischen Küste ohne vorherige 
Vernichtung Österreich--Ungarns unmöglich gemacht. Der neue Weg aber 
erschien deshalb ganz besonders hoffnungverheißend, weil er durch den 
Sandschak Nowibasar geführt hätte. Dieses zum großen Teil serbisch 
bevölkerte Gebiet aber hatte bekanntlich ÖOsterreich-Ungarn 1909 dem 
Türkischen Reiche zurückgegeben und auf alle eignen früheren vertrag- 
lichen Rechte verzichtet. — Unter solchen Berhältnissen mußte ed für die
	        
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