Zwei neue Mächtegruppen.
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auch in Deutschland Politiker und sehr einflußreiche Militärs, die einen
Krieg mit Rußland für unvermeidlich hielten und der Ansicht waren, man
solle nicht warten, bis es mit seinen Rüstungen ganz fertig sei. Weder der
Zar noch der Deutsche Kaiser wollten einen Krieg, jeder glaubte sich durch
Pläne des anderen bedroht. Der Zar wurde darin naturgemäß von seinen
dänischen Berwandten und von Frankreich aus bestärkt, während der mit
einer dänischen Prinzessin verheiratete Prinz von Wales, der nachmalige
König Eduard WVII., mindestens keinen Grund hatte, Mißtrauen zwischen
De,utschland und Rußland zu bindern oder zu zerstören. Einen tatsächlichen
Grund zur Berstimmung gab dem Zaren freilich die Polenpolitik Caprivis.
Ohne von der inneren Bedeutung dieser Politik reden zu wollen, war
sie nach außen, einmal Rußland gegenüber, ungefähr das Schädlichste,
was der Deutsche Kanzler tun konnte. Caprivi machte sich das alte, unheil-
volle Vorurteil mancher seiner Vorgänger in Preußen zu eigen: er wollte
die Polen durch „Wohlwollen gewinnen“, sie durch Zugeständnisse und
Vorzugsbehandlung zu guten Preußen und Oeutschen machen. Za, er
betrachtete sie geradezu als ein Bollwerk Preußens gegen Rußland. Die
Wirkung auf die russischen Polen und auf die österreichischen braucht nicht
erörtert zu werden. Der Zar und seine Regierung aber mußten die Capri-
vische Polenpolitik als eine im politischen Sinne unfreundliche Handlung
des Deutschen Reiches gegen Rußland betrachten, eine Handlung, die ge-
rade an einem der empfindlichsten Punkte des Russischen Reiches und
der russischen Politik einsetzte. Unter diesen Verhältnissen konnten die
Bemühungen Kaiser Wilhelms, nach dem Verfallenlassen des Neutralitäts-
vertrages und während des Zusammengehens mit Großbritannien in ein
freundliches Berhältnis zu Rußland zu gelangen, nicht von Erfolg be-
gleitet sein.
Die Franzosen täuschten sich in jenen Jahren über die Richtung der
russischen Politik und die Sinnesrichtung des Zaren. Die Friedensliebe
Frankreichs wurde damals wie später immer wieder betont, aber daneben
— und wie hätte es auch anders sein können? — klang der Nevanche--
gedanke durch. Die Franzosen glaubten, daß Rußland allen Anlaß habe,
mit Frankreich zusammen Deutschland und Osterreich-Ungarn anzugreifen,
und daß ein solcher Krieg die Wahrscheinlichkeit des Erfolges für sich haben
werde. Die Zeit von 1887 bis in die neunziger Jahre binein war von
Zwischenfällen und von schweren inneren Krisen in Frankreich angefüllt,
bei deren jeder die europäischen Großmächte die Beantwortung der Frage:
Krieg oder nicht Krieg, als vom Zufall abhängig ansehen mußten. Ob
diese Zwischenfälle und Krisen sich nun Schnäbele nannten oder Boulan-
ger oder Lohengrin, oder ob es sich um den bedauerlichen Besuch der Kai-
ferin Friedrich in Paris handelte: immer lag die brennende Lunte dicht
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