54 1. Abschnitt. VBon Rußland zu Großbritannien. 1887—1894.
ländischen Grenznachbarn hatten sich die Hände gereicht und waren fest
miteinander verbunden. Die deutsch-russischen Beziehungen waren lose
und kühl, ohne gegenseitiges Bertrauen, während das vor zwei Jahren
noch so enge Verhältnis mit Großbritannien sich zu lösen fortfuhr und
schon unklar geworden war. Koloniale Fragen begannen die Orientie-
rung der Großmächte stark zu beeinflussen. Deutschland beteiligte sich
nicht mit Geschick an ihnen, soweit Grenzregelungen in Frage kamen.
Dagegen scheint jene Entsendung der beiden deutschen Kreuzer nach der
Oelagoabucht aus einem, wenn nicht zielbewußten, so doch von einem
bestimmten Gesichtspunkte ausgehenden politischen Gedanken des Frei-
herrn v. Marschall veranlaßt worden zu sein: dem eines erheblichen
deutschen Interesses an der Selbständigkeit und Unabhängigkeit der süd-
afrikanischen Burenrepubliken. Es war das die einzige Jußerung einer
weitergreifenden Politik des Deutschen Reiches, eines ersten Anfanges.
Der Dreibund stand unerschüttert da, aber in Ztalien war der Streit
der Meinungen heißer denn je. Das Land litt wirtschaftlich stark. Viele
Politiker behaupteten, daß das Deutsche Reich seinem südlichen Bundes-
genossen nicht mehr so bereitwillig und energisch Rückenstärkung gäbe,
wie zu Bismarcke Zeiten. Der Oreibund erdrücke dagegen durch seine
ungeheuren Militärlasten das italienische Volk wirtschaftlich. Eine starke
— Fgleichzeitig frankreichfreundliche — Opposition gegen Monarchie und
Heer machte sich bemerklich. Crispi, 1894 wieder Ministerpräsident, trat
mit Energie für das Heer ein und rief den IZtalienern zu: „Nur die Mon-
archie bezeichnet die Einheit und die Zukunft des Baterlandes.“ Trotz des
Zwischenfalles von Llgues-Mortes, als in Italien die gerechte Entrüstung
gegen Frankreich wieder einen Gipfel erreichte, war während der Jahre
1891 bis 1894 ein Vachsen der Stimmung für Frankreich unverkennbar:
nicht gerade bewußt auf Kosten des Oreibundes, aber es herrschte doch
die Anschauung, daß nach Aufbhören des Zollkrieges und Platzgreifen
einer versöhnlicheren Stimmung zwischen den beiden Mächten die wirt-
schaftlichen Nöte des Landes sich mindern würden. Unterstützt wurde
diese Stimmung durch das Mißfallen am italienisch-deutschen Handels-
vertrage. Crispi, als Bertreter der Opposition im Parlamente, tadelte
sogar (1892), daß man den ODreibundvertrag vor dem Abschluß des neuen
Handelsvertrages erneuert und so ein Oruckmittel im Sinne des letzteren
ohne Not aus der Hand gegeben habe.
Die internationalen Kolumbusfeste 1892 in Genua vollends waren
ein bedeutungsvolles Syomptom von dem Umschwunge der italienischen
Stimmung Frankreich gegenüber. Kriegeschiffe aller europäischen Na-
tionen lagen auf der Reede von Genua versammelt, freilich nur ein ein-
ziger deutscher Kreuzer bezeichnete als ein von der französischen Presse