Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

56 1. Abschnitt. Von Rußland zu Großbritannien. 1887—1894. 
  
ferner Italien sich wirtschaftlich in dauernd ungünstiger Lage befand, 
da kam jene auf Annäherung an Frankreich strebende Stimmung immer 
stärker zum Vorschein. 
Bier Fahre sind zur Beurteilung der Tätigkeit eines leitenden Staats- 
mannes nicht immer ausreichend. Daß der Reichskanzler v. Capriovi sich 
alo Nachfolger eines Bismarck unter allen Umständen in einer üblen 
Lage befand, braucht nicht betont zu werden. Ebensowenig kann man 
den Standpunkt als unrichtig bezeichnen, daß ein europäisches Sostem, 
wie Bismarck es eine Reihe von Jahren zu meistern vermocht hatte, über 
die Kräfte eines durchschnittlichen Staatsmannes binausging, also in 
seiner Bollständigkeit auf die Dauer nicht erhalten und beherrscht werden 
konnte. Was man Caprivi vorgeworfen hat und auch heute noch als einen 
unbegreiflichen Fehler ansehen muß: das war die Plötzlichkeit seiner Abkehr 
von Rußland und die gewollte oder ungewollte Bedingungelosigkeit, mit 
der er sich England näherte und sich dort in die Arme einer im Grunde 
feindlich gerichteten, kühlen und scharfsichtigen Staatskunst hineinwarf. 
„Hals über Kopf“, so hat damals Bismarck diese Politik bezeichnet, und es 
ist auch jetzt nach mehr als zwanzig Zahren kaum möglich, sie anders zu 
charakterisieren. Die Kolonialpolitik Caprivis, wenn man überhaupt von 
einer solchen sprechen will, ging praktisch im wesentlichen darauf hbinaus, 
alles, was er für augenblicklich überflüssig hielt, von vornherein als Tausch- 
objekt zu betrachten und nach dem Grundsatze: ich habe es selbst billig 
bekommen, Wert lege ich nicht darauf, ich gebe es billig fort! — zu ver- 
handeln. 
Wenn oft gesagt worden ist, man habe von Capriri keine kolonialen 
Kenntnisse verlangen können, solche seien damals in Deutschland über- 
haupt sehr selten gewesen, so ändert das doch nichts daran, daß sein Ver- 
fahren der politischen Geschäftstaktik widersprach. Biomarck verstand 
sicher wenig von Kolonien im fachmännischen Sinne, aber er verstand, 
Zukunftsaussichten abzuschätzen, vor allem auch zu erkennen, was fremden 
Konkurrenten an unserem Besitze wertvoll erschien. Dementsprechend 
bemaß Bismarck den Wert politisch. 
Caprivi war während einer Reihe von Zahren Chbef der Admiralität 
gewesen und hatte in der jungen und kleinen deutschen Marine organi- 
satorisch und auf dem personalen Gebiete Großes und Gutes geleistet. 
Aber auch bier finden wir einen Mangel an Gesamtüberblick, vor allem 
einen Mangel an Perspektive. Er befand sich auf dem Standpunkte: viel 
Geld wird für die Marine niemals flüssig sein, sie wird immer klein bleiben. 
Kleine Marinen müssen sich auf die unmittelbare Küstenverteidigung 
beschränken. Das gilt also auch für die des Deutschen Reiches! — Es 
scheint darin ein gewisser Wesenszug des Caprivischen Charakters zu liegen:
	        
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