II. Der Kaiser liest die Einladungsliste zum nächsten Hofball und fragt:
‚Warum ist denn Windthorst nicht darauf ?“
‚Warum soll man sich also noch wundern ?‘“
Dieser kleine Windthorst-Kalender ist charakteristisch für das Verhältnis
des Kaisers zu dem klugen und gerissenen Zentrumsführer und für die kaiser-
liche Persönlichkeit selbst. Wenige Tage nach dieser Notiz schreibt Walder-
see während einer eigenen Krisis:
„Am bedauerlichsten bleibt immer die Rolle des Kaisers; das Gefühl der
Unsicherheit ihm gegenüber muß sich steigern. Es ist eine Kleinigkeit, ihn
gegen Personen einzunehmen; er glaubt sofort das Schlechte, hat aber das
größte Mißtrauen, wenn man von jemandem etwas Gutes sagt. Hier liegt die
Möglichkeit eines Einflusses für gewisse Elemente seiner nächsten Um-
gebung. Der Kaiser kann sehr liebenswürdig sein, wirkliches Wohlwollen
fehlt ihm gänzlich. Deswegen wird er sich auf die Dauer nirgends Liebe er-
werben.‘ — Waldersee war lange Zeit bevorzugter Günstling des Kaisers.
Dieser spielte auch jahrelang mit dem Gedanken, Waldersee zum Reichs-
kanzler zu machen, und sagte ihm auch mehrmals: wenn es hart auf hart mit
der Sozialdemokratie ginge, so würde Waldersee der Mann sein. Der Augen-
blick kam nicht, denn der Kaiser hat niemals gewagt, anders als mit leeren
Worten dem Reichsfeinde Marxismus entgegenzutreten.
*
Die Gunst des Kaisers zu erlangen, war damals das Ziel aller Ehrgeizigen,
Eitlen und Titelsüchtigen: Wie ist es am besten möglich, dem Kaiser an-
genehm aufzufallen, wie, Gelegenheit zu erhalten, von ihm gesehen, bemerkt
zu werden ?
Wie bekommt man Zutritt zu Personen und Kreisen, die irgendwie mit
dem Hofe oder einem Kabinettchef des Kaisers oder einem Generaladju-
tanten oder mit der Berliner Diplomatie oder einem Ministerium in Ver-
bindung stehen ?
Innerhalb jener begehrten und beneideten Kreise herrschte ein dauerndes,
mit allen Mitteln geführtes Intrigenspiel. Wer den Platz inne hatte, der ihm
genehm war, befand sich in fortwährender Unruhe und Abwehr gegen
Rivalen, die sich an seine Stelle setzen wollten, während er andererseits
danach trachtete, einen Ring von Freunden um sich herum zu bilden, zu-
gleich in der Furcht, daß einer dieser Freunde ihn plötzlich aus dem Sattel
heben oder verraten könnte. Den Mittelpunkt, um den sich alles drehte,
bildete der Kaiser, ständig wechselnd in seinen Stimmungen, in Gunst und
Ungunst, in Zutrauen und Mißtrauen, in Absichten und in Launen.
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