schichte an, ihre Geheimhaltung sei von Deutschland gar nicht gewünscht
gewesen, sondern auf Rußlands Wunsch erfolgt. Im deutschen Interesse
hätte volle Veröffentlichung gelegen. Ganz aus der Luft gegriffen sei die Be-
hauptung, daß jener abgelaufene Vertrag mit der Dreibundtreue Deutsch-
lands nicht vereinbar sei. Den gleichen Vertrag hätte Rußland auch mit jeder
der beiden anderen Dreibundmächte schließen können. Wir fügen hinzu:
Diese offiziellen Anklagen und Beschuldigungen bewiesen in der Haupt-
sache zwei Dinge: einmal die Kopflosigkeit und betroffene Verwirrung der
Regierung gegenüber der Enthüllung eines verhängnisvoll schweren, leicht-
fertig begangenen politischen Fehlers, der sich weder leugnen noch recht-
fertigen ließ; zweitens: die Schamlosigkeit, den Schöpfer des Reichs 'als
Landesverräter und Lügner hinzustellen. Recht hatte die Schweizer ‚Neue
Züricher Zeitung‘‘ mit den zwei kurzen Sätzen: ‚In der Tat, Fürst Bis-
marck kannte kein anderes Interesse als das deutsche. Der Neutralitäts-
vertrag mit Rußland beweist nur die ungeheure Sorgfalt, die Bismaıck an
den Tag legte, um Deutschland nach allen Seiten zu sichern.“
Einem deutschen Zeitungsmann antwortete Bismarck damals auf eine
Frage: ‚Sie überschätzen meine politische Leidenschaft. Ich habe ja auch
ebensowenig Verantwortlichkeit wie Einfluß, und ich erlebe auch schwerlich
die Folgen dessen, was jetzt geschieht und unterbleibt. Aber ich bedaure
doch, daß, nachdem wir dreißig Jahre im Aufschwung gewesen sind, jetzt
die Sacherückwärts geht. Ich erlebe ja das Ende nicht, aber für meine Söhne
tut es mir leid. Nun, sie mögen gehen, wie sie fertig werden.“
Die Überzeugung, daß das ‚Ende‘ unter diesem Kaiser und durch ihn
unabwendbar kommen werde, hat Bismarck, nachdem er den Kaiser durch-
schaut hatte, nicht mehr verlassen. Seine Sachlichkeit in der Beurteilung der
damaligen aktuellen auswärtigen Politik bewies Bismarck gleichwohl ge-
legentlich der berühmten Krüger-Depesche Kaiser Wilhelms, von deren Zu-
sammenhängen an anderer Stelle die Rede ist. Die „Hamburger Nach-
richten‘ schrieben: Es sei eigentlich Sache der großbritannischen Regierung
gewesen, jenen Überrumpelungsstreit des Dr. Jameson gegen die süd-
afrikanischen Burenrepubliken so zu beurteilen, wie der Kaiser es getan
habe. Daß Bismarck jene deutsche Einmischung nicht für einen Gipfel
staatsmännischer Kunst hielt, ist selbstverständlich.
Offen abfällig, jedenfalls mit äußerstem Skeptizismus, beurteilte Fürst
Bismarck die deutsche Besitznahme von Kiautschou. Der alte Staatsmann
erkannte sofort den Kernpunkt: Diese Erwerbung werde eine schwere Be-
lastung Deutschlands im Fernen Osten bilden. Ebenso hatte er die japan-
feindliche Beteiligung des Deutschen Reiches, zusammen mit Frankreich
und Rußland, gegen den japanisch-chinesischen Friedensvertrag von Schi-
12 Reventlow: Von Potsiam nach Doorn 257