Full text: Von Potsdam nach Doorn.

Wilhelm I. war von einer tiefen, phrasenlosen und demütigen Frömmig- 
keit, der sich vor jedem seiner Entschlüsse und Verpflichtungen durch Gebet 
mit seinem Gewissen auseinandersetzte, um zu erkennen, wo seine Pflicht 
lag. Nie hat ein Herrscher, nie ein Mensch ferner von aller Überheblichkeit, 
von Sucht nach Ruhm, nach Beifall und allem Schein, von Furcht und Miß- 
fallen und Gefahren gelebt und gehandelt, wie dieser verehrungswürdige 
Mann. Als er 1862 seine entscheidende Unterhaltung mit Bismarck hatte, 
sagte er diesem: 
„Ich will nicht regieren, wenn Ich es nicht so vermag, wie Ich es vor Gott, 
Meinem Gewissen und Meinen Untertanen verantworten kann. Das kann 
Ich aber nicht, wenn Ich nach dem Willen der heutigen Majorität des Land- 
tags regieren soll, und Ich finde keine Minister mehr, die bereit wären, Meine 
Regierung zu führen, ohne sich und Mich der parlamentarischen Mehrheit 
zu unterwerfen. Ich habe Mich deshalb entschlossen, die Regierung nieder- 
zulegen, und Meine Abdikations-Urkunde, durch die angeführten Gründe 
motiviert, bereits entworfen.‘ 
Nachdem Bismarck ihm dann gesagt hatte, er sei bereit, den Kampf auf- 
zunehmen, sagte er: „Dann ist es Meine Pflicht, mit Ihnen die Weiter- 
führung des Kampfes zu versuchen, und Ich abdiziere nicht.‘ 
Das Urteil, ob Wilhelm II. die Berechtigung hatte, sich in irgendeiner Be- 
ziehung, wie er oft tat, auf seinen Großvater zu berufen, sei dem Leser über- 
lassen. Es hat selten zwei so verschiedene, einander entgegengesetzte Per- 
sönlichkeiten gegeben, wie diesen Großvater und diesen Enkel. — 
Der größte Teil der so häufigen Fahrten des Kaisers zu einer Stadt, zu 
einer Denkmalsenthüllung, zu zahllosen Jubiläen und Regimentsfesten 
galten der Apotheose seiner Vorfahren und seiner eignen. Daß der Kaiser 
sich für diese ‚Propaganda‘ gerade der verkehrtesten Mittel bedient hat, 
ergab sich aus seiner Wesensart und der mit ihr verbundenen Unfähigkeit 
zu einer richtigen Psychologie der Bevölkerung und auch der Armee. Gewiß 
gab es ungezählte Trennungen, Gegensätze, Verschiedenheiten der Mei- 
nungen, auch des Wesens, im deutschen Volk, es gab auch die, vom Kaiser 
vervielfachten, überall im Lande vorhandenen sogenannten Hurrapatrioten, 
die, weil am meisten lärmend, für wichtiger und echter gehalten wurden, als 
sie waren. Gleichwohl würde sich ein Kaiser — er hätte kein Genie zu sein 
brauchen — von festem, anspruchslosem Charakter, der nicht Versprechun- 
gen machte, die er nicht erfüllen konnte, nicht drohte, wenn er nicht im- 
stande und entschlossen war, die Drohung zu verwirklichen; ein Kaiser, der 
nicht von seinen Erleuchtungen sprach, sondern sie in seinem Handeln er- 
kennen ließ, und unbeirrt seinen Weg ging und, vor allem, dies stetig tat, 
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