Deutschland und das Weltstaatensysten 47
sich jetzt mit veränderter Front wieder dem nahen Orient zu; und es
scheint, daß England, ohne seinen alten Widerspruch gegen die völlige
Verdrängung der Türkei aus Europa, gegen die Erwerbung Konstanti-
nopels und der Alcerengen durch Rußland ausdrücklich aufzugeben, es
doch verstanden habe, Hoffnungen und Aussichten in dieser HFinsicht
bei den russischen Staatsmännern zu erwecken, die sie zu brauchbaren
Werkzeugen der englischen Politik gegen Deutschland machten. Hätte
sich Rußland auf die Forderung beschränkt, daß seinen Kriegsschiffen
die Durchfahrt durch die Dardanellen unter gewissen Bedingungen ge-
stattet wurde, so würden wohl weder die Türkei noch Österreich allzuviel
dagegen einzuwenden gehabt haben. Aber Rußlands Begehren ging
weiter; es wollte die Herrschaft über Konstautinopel, die Mecrengen,
die Balkanländer, das Schwarze Aeer und Kleinasien haben; und
bei diesen Plänen bildete der dentsch-österreichische Block ein schwer zu
überwindendes Hindernis.12) Es ist früher und später immer wieder
von russischer Seite auf Deutschland, von englischer auf Österreich ein-
gewirkt worden, um die enge Verbindung der beiden europäischen Zen-
tralmächte auf die eine oder andere Weise aufzulösen. Alle diese Ver-
suche sind gescheitert. Es wäre heute noch weniger als sonst angebracht,
Betrachtungen darüber anzustellen, ob Oeutschland mehr des österrei-
chisch-ungarischen oder Österreich-Ungarn mehr des deutschen Bünd-
nisses bedurfte, um seine Machtstellung in der Welt zu behaupten; das
Wesentliche ist, daß in der europäischen Konstellation, wie sic sich ge-
staltet hatte, beide Mächte gegenseitig aufeinander angewiesen waren,
und daß sich dieses Gefühl der Interessengemeinschaft auch über den
Wortlaut ihres geschriebenen Bundesvertrages hinaus geltend ge-
macht hat.
ODie Wirkungen des russisch-britischen Einverständnisses in den Balkan-
fragen traten namentlich seit der Zusammenkunft von Reval (1908) deut-
licher hervor, zunächst in einer verstärkten Agitation der großserbischen
Bewegung, die sich gegen die österreichische Oklupation in Bosnien und
indirekt gegen die Integrität der österreichisch-ungarischen Monarchic
überhaupt richtete. Die daraus hervorgehenden Spannungen verschärf-
ten sich noch durch die jungtürkische Umwälzung, die den nationalisti-
schen Bestrebungen der Balkanwölker wie denen im osmanischen Reiche
selbst eine gefährliche Stoßkraft verlieh und die Bedrohung der Stellung
IOsterreichs in Bosnien noch stark vermehrte. Aus dieser Lage ging der
12) Diese Auffassung wird aufs rückhaltloseste bestätigt durch die Ausfüh-
rungen von Prof. v. Mitrofanoff in den Preußischen Jahrbüchern, Juni 1913,
S. 385 ff.