Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

324 Franbreich. (November 5.) 
einer parlamentarischen Krise hervorgegangen sei, sondern daß der Gesund- 
heitszustand des bisherigen Ministerpräsidenten Sarrien, der einer längeren 
Ruhe bedürfe, die Bildung des neuen Kabinetts veranlaßt habe. Da 
unsere auswärtige Politik dem von den Wählern erteilten Auftrage ent- 
spricht, ist sie von vornherein bekannt, denn in dem Willen des Landes, 
den Frieden, und zwar einen würdevollen Frieden, aufrecht zu erhalten, 
ist ebenso wenig eine Aenderung eingetreten wie darin, daß es andauernd 
die republikanischen Rechte fordert. Wir stellen mit Stolz fest, daß es in 
den 35 Jahren, die seit der Gründung der Republik vergangen sind, auch 
nicht einen Augenblick in ihrer Geschichte gegeben hat, wo man sie mit 
Recht hätte beschuldigen können, daß sie den europäischen Frieden bedrohe. 
Wir werden so zu handeln wissen, daß unsere Absichten in dieser Beziehung 
nicht verkannt werden können. Wir müssen gleichzeitig die Bedingungen 
des internationalen Gleichgewichts, die die europäische Lage allen Völkern 
auferlegt, annehmen, denn der Frieden der zivilisierten Welt gründet sich 
auf die Stärke der Heere. Wie könnten wir also mit eigenen Händen die 
höchste Garantie unserer Unabhängigkeit zerstören? Bis zu dem glück- 
lichen, aber unbestimmten Tage, an dem das Regime, das jetzt die Be- 
ziehungen der Völker regelt, wird geändert werden können, muß es unsere 
erste Pflicht gegen das Vaterland sein, nicht zuzulassen, daß es in irgend 
einem Bestandteile seiner Verteidigungskraft geschwächt werde. Unsere 
internationalen Einverständnisse (Ententes) sind ein wichtiger Teil der 
Verteidigungskraft. Während wir uns angelegen sein lassen werden, unsere 
Beziehungen zu allen Regierungen aufrecht zu erhalten und zu bessern, 
wird es unsere Sorge sein, die Allianz, die von beiden Seiten im Interesse 
des Friedens geschlossen wurde, ebenso die Freundschaften, die ich habe auf 
die Probe stellen können, aufrecht zu erhalten und weiter zu entwickeln. 
Uebrigens wird unsere Diplomatie, von der wir wollen, daß sie republi- 
kanisch sei, sich der schwierigen Stunden erinnern. Die moralische Autorität 
der offen befolgten Politik der Geradheit kann von entscheidendem Gewichte 
in der Wagschale der Meinung Europas sein. Keine Regierung wird sich 
künftig dem entziehen können, damit zu rechnen. Im Innern wird unser 
Handeln nicht weniger klar sein. Die Demokratie in endgültiger Weise 
in die Regierung einsetzen, sie organisieren und regeln dadurch, daß sie zu 
ihrer Konsolidation dahin gebracht wird, sich in Ausübung der Gewalt 
selbst zu mäßigen, das ist nach unserer Ansicht das Ziel, das sich alle 
Republikaner setzen müssen. Ehe man philosophiert, muß man überhaupt 
sein. Deshalb wollen wir unsere militärischen Kräfte aufrecht erhalten, 
um allen Eventualitäten begegnen zu können. Der Kriegsminister wird 
demnächst eine Gesetzesvorlage betr. die Cadres und die Effektivstärke ein- 
bringen, welche die volle Ausnutzung der Rekrutierungsmittel bezweckt. 
Ein anderer, seit langem erwarteter Gesetzentwurf wird für die Beförde- 
rung der Offiziere mehr Gerechtigkeit bringen. Die Disziplin werden wir 
dadurch zu sichern wissen, daß wir verlangen, daß sie von oben komme. 
Die Militärdienstzeit muß eine Verlängerung des Schulunterrichts sein. 
Wir möchten, daß die Generationen, nachdem sie sich in ihrer Dienstzeit 
hygienische Gewohnheiten und die Grundsätze staatsbürgerlicher Erziehung 
zu eigen gemacht haben, besser und für den Frieden geeigneter aus ihr 
ausscheiden. Wir werden unverzüglich die Aufhebung der Kriegsgerichte 
vorschlagen. Die Entscheidung über Verbrechen und Vergehen des gemeinen 
echts wird dem Gerichte der gemeinen Rechte zugewiesen werden. Das 
Disziplinarverfahren wird mit allen Garantien umgeben werden, die un- 
umgänglich notwendig sind, um die Menschenrechte mit den Anforderungen 
der nationalen Verteidigung in Uebereinstimmung zu bringen. Die Re-
	        
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