164 Geseg, betreffend die Verfassung des deutschen Reichs. Art. 78.
als ja eine Verfassungsänderung ohne Mitwirkung des Reichstags, welcher
das gesammte deutsche Volk und sohin auch die Bevölkerung jedes ein-
zelnen Staates vertritt, nicht statlfinden kann. Indem die Landesver-
tretungen dem Art. 78 Abs. I, wonach Verfassungsänderungen durch die
Träger der Neichsgewalt vorgenommen werden können, ihre Zustimmung
ertheilten, haben sie ihrerseits auf eine direkte Mitwirkung zu derartigen
Verfassungsänderungen verzichtet.
3. Darunter fallen offenbar die Bestimmungen der Art. 4 Ziff. 1,
Art. 35 Alinea 2, Art. 46 Alinea 2, Art. 52, ferner der Schluß-
bestimmung zu Abschnitt XI und der Schlußbestimmung zum XII. Ab-
schnitte der Verfassung, durch welche bestimmte Rechte Bayerns und resp.
Württembergs und Badens anerkannt sind.
Hiemit ist aber der Inhalt des Art. 78 Abs. II nicht erschöpft;
es werden vielmehr auch alle jene Verfassungs= oder Vertragsänderungen
darunter zu subsumiren sein, durch welche ein in der Verfassung oder den
Verträgen besonders anerkanntes, bei Eingehung der Verfassungsbündnisse
vom Jahre 1867 und 1870 von sämmtlichen Kontrahenten als einseitig
unabänderlich gedachtes oder erklärtes Recht eines einzelnen Staates ganz
oder theilweise aufgehoben wird; vergl. hiezu die Verhandlungen des
Reichskags 1871 Stenog. Ber. S. 159 ff
4. In welcher Weise diese Zustimmung von dem berechtigten
Bundesstaate zu erklären sei, geht aus der Verfassung nicht direkt hervor.
Der Präsident des Bundeskanzleramtes antwortete auf eine deßfallsige
Anfrage in der Sitzung des norddeutschen Reichstags vom 7. Dezember
1870 (Stenogr. Ber. S. 134): „Eine authentische Interpretation kann ich
hier nicht geben, ich kann nur sagen, daß ich unter dieser „„Zustimmung““
nichts anderes verstanden habe als die Zustimmung im Bundesrathe und
daß mir bisher eine entgegenstehende Auffassung nicht bekannt geworden ist.“
Es ist wohl unzweifelhaft, daß diese Art der Erklärungsabgabe
sormell genügt; nicht minder selbstverständlich aber ist, daß die Bundes-
rathsbevollmächtigten des betreffenden Staates vorher die Zustimmung
derjenigen Faktoren erholen, welche nach dem speciellen Landesrechte über
das Aufgeben positiver Rechte des Staates zu beschließen haben; — ver-
gleiche hiezu das Gutachten der Minorität des Ausschusses der bayrischen
Abgeordneten-Kammer in den Beilagen zu den Berhandlungen dieser
Kammer Bd. IV S. 86.