Full text: Die Reichsverfassungsurkunde vom 16. April 1871.

14 Grundzluge des Verfassungsrechls des deutschen Reichs. 
wohl durch eine irrige Auffassung des in den Vorbehalt mit hinein- 
gezogenen Ausdruckes „Niederlassungsverhältnisse“ hervorgerufen. Be- 
sieht man sich jedoch die Bestimmungen der Art. 3 und 4 Ziff. 1 der 
Verfassung näher, so wird man finden, daß mit jenem Ausdrucke, 
welcher überdieß mit dem Worte „Heimat“ in die engste Verbindung 
gebracht ist, nur diejenigen Beziehungen getroffen werden wollten, welche 
sich in Folge der Niederlassung zwischen der Gemeinde und dem 
Einzelnen hinsichtlich des Heimaterwerbs und der hiemit 
zusammenhängenden Ehebeschränkungen dann des Gemeinde- 
bürgerrechts im engeren Sinne ergeben, daß aber das Recht auf freie 
Niederlassung und die hiemit zusammenhängenden Rechte in Bezug auf 
Indigenat und Erwerbsfreiheit keinesfalls unter den kritischen Ausdruck 
„Heimats= und Niederlassungsverhällnisse“ subsumirt werden können, da ja 
alle diese Dinge in Art. 3 der Verf. und durch den in Art. 4 Ziff. 1 zuerst er- 
wähnten Begriff „Freizügigkeit“ erledigt sind. Ossenbar wurde der Ausdruck 
„Niederlassungsverhältnisse“ nur deßhalb in die bayrischen Vorbehalte her- 
übergenommen, weil er einerseits nach der Redaktion der Bundesverfassung 
zu Einem Worte mit dem Ausdruck „Heimat“ vereinigt war und 
weil man andererseits früher gerade hieraus die Kompetenz des Bun- 
des zur Aufhebung der polizeilichen Ehebeschränkungen") abgeleitet hatte 
(vergl. Stenogr. Berichte des Nordd. Neichstags 1868 Bd. 2 S. 69). 
Anspruchs auf Armenunlerstügung in der Aufenthaltsgemeinde bildet kein wesent- 
liches Attribul des Freizügigleilsrechles und es wird daher sowohl in der Reichs- 
verfassung als im Freizilgigkeilsgeselze zwischen Freizügigkeitsrecht und Heimat 
(Unterstüggungswohnsit) unterschieden. Wäre die Anschauung Auerbachs richtig, 
so bestünde weder in Großbritlanien noch in Amerika ein gemeinsames Frei- 
zügigkeitsrecht, denn in Amerika zieht der Aufenthalt keineswegs den Anspruch 
auf Armenunterstügung nach sich, und in Großbrillanien wurden erst in den letz- 
ten Decennien verschiedene Heimakgeselze für England, Irland und Schottland emanirt. 
Unbegründet ist ferner das Urtheil Auerbachs über die bayrische Gemeinde- 
ordnung; dieselbe ist im großen Ganzen liberaler als irgend eine andere deulsche 
Gemeindegesetzgebung und nur in der Materie des Bürgerrechts= und Heimal- 
erwerbs gingen die Kammern im Gemeindeinteresse elwas gar zu ängstlich zu 
Werke, indem sie die liberaleren und einfacheren Vorschläge des Regierungsent- 
wurfs nicht adoplirten. 
*) Die in Bayern zur Zeil in den älteren Landestheilen bestehenden Ehe- 
beschränkungen sind sehr unbedeutend und nur wegen der Ordnung der Heimatsverhäll- 
nisse von cinigem Werthe; principiell besteht auch in Bayern Verehelichungsfreiheit.
	        
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